: Jelzin: Rußland statt UdSSR im Sicherheitsrat
Moskau (ap/taz) — Auch im internationalen Protokoll manifestiert sich die neue Machtfülle des russischen Präsidenten: Boris Jelzin empfing gestern den amerikanischen Außenminister Baker im Katarinensaal des Kremls, wo bislang Gorbatschow mit den Größen aus aller Welt konferierte. Politisch machte Jelzin nach dem Gespräch vor Journalisten seinen Anspruc auf Macht ganz unverhüllt deutlich: Rußland beanspruche den Sitz der Sowjetunion im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, forderte er nach einer Meldung der Agentur Interfax.
Baker, der sich auf der ersten Station einer Tour d'horizon durch die „slawischen Republiken“, Kasachstan und Kirgisien befindet, hatte der russischen Seite präzise amerikanische Vorschläge unterbreitet, die die Sorge um die Verfügungsgewalt über das atomare Potential der verschwundenen UdSSR widerspiegeln: Unabhängig vom Schicksal Gorbatschows soll eine zentrale Kommandostruktur für die strategischen Waffen erhalten bleiben, die verschiedenen atomaren Waffentypen sollen einerseits (bei den „taktischen“ Atomwaffen) vermindert, andererseits in weniger Orten konzentriert werden. Außerdem müße ein striktes Verbot der Proliferation für sämtliche Atomwaffen garantiert werden. Bakers Versuch, über die gegenwärtige und zukünftige Befehlsstruktur Klarheit zu gewinnen, wird durch Äußerungen russischer und ukrainischer Militärs nicht gerade erleichtert.
Während der sowjetische Verteidigungsminister versicherte, die Zentrale kontrolliere nach wie vor das Atomwaffenarsenal, war von seiten der Atom-Republiken Rußland, Weißrußland, Ukraine und Kasachstan zu hören, sie würden binnen Kürze einen Obersten Kommandorat einrichten, der kollektiv über den Einsatz von Atomwaffen entscheide. Kompliziert wird die Lage dadurch, daß der Staatschef der Ukraine, Krawtschuk, sich zum Oberbefehlshaber aller Streitkräfte auf dem Boden der Republik proklamiert hat. Von seiten des ukrainischen Verteidigungsministers Konstantin Morosow wurde entsprechend mitgeteilt, er nehme nur noch Befehle der ukrainischen Staatsführung entgegen. Nicht ganz klar ist auch, ob der geplante Kommandorat nur über die strategischen Atomwaffen wacht, womit die Atom„minen“ und die Atom„artillerie“ dem Befehl der Republiken unterstellt blieben.
Über eins hat der designierte russische Verteidigungsminister Kobets die Amerikaner allerdings beruhigen können. Im Augenblick und für die nächsten zwei Monate teilen sich drei Politiker die Verantwortung für den „Drücker“: Gorbatschow, Jelzin und der sowjetische Verteidigungsminister Schaposchnikow. General Kobets machte im Vorfeld des Baker-Besuches klar, daß die slawischen Republiken und Kasachstan im Prinzip übereingekommen seien, sämtliche Nuklearwaffen — also auch die „taktischen“ — in Rußland unter einheitlichem Kommando des „Commonwealth“ zu stationieren. Er äußerte den Wunsch nach westlicher Hilfe bei der Zerstörung einer großen Zahl „taktischer“ Sprengköpfe. Daß Kobets einen wachsenden Konsens unter den Republikchefs artikulierte, wurde gestern abend durch eine Erklärung Jelzins nach seinem Gespräch mit Baker unterstrichen. Der russische Präsident gab den Plan zur Errichtung eines einheitlichen Oberkommandos der Luft-, See-, Land- und Nuklearstreitkräfte bekannt. Der Entscheid über den Einsatz von Nuklearwaffen würde von den Präsidenten der Commonwealth-Länder gemeinsam verantwortet. Jelzin dementierte Montag abend Gerüchte, nach denen Gorbatschow der Posten des Oberbefehlshabers aller Streitkräfte angeboten worden sei.
Während die sicherheitspolitische Szenerie sich aufhellte, verdüsterte sich die sowjetische Innenpolitik. Gavril Popow, einer der „historischen“ Führer der russischen Demokratiebewegung, gab seinen Rücktritt als Moskauer Bürgermeister bekannt, einen Posten, auf den er erst wenige Monate vorher direkt gewählt worden war. Als Grund nannte er Differenzen mit dem Moskauer Stadtparlament und mit Präsident Jelzin über Umfang und Tempo der Privatisierung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen