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Alles auf einmal

■ Heiner Goebbels und Michael Simons neues Musiktheaterstück „Römische Hunde“ in Frankfurt uraufgeführt

Der Horatier besiegt den Verlobten seiner Schwester im Kampf für Rom. Als die Schwester des Siegers den Verlust ihres Verlobten beklagt, erschlägt der Horatier seine Schwester und droht, alle zu erschlagen, die gegen Rom und für den Feind sind. Logik der Kriegsheimkehrer. Sie wissen nicht, wann der Krieg vorbei ist. Also erhebt sich das Gericht über den Horatier: Denn der Sieger ist ein Mörder, aber der Mörder auch ein Sieger. Was tun? Heiner Müller: „Weil der Sieger/Mörder und Mörder/Sieger sind, ist ein Mann unteilbar. Sollen wir also von beidem keines tun?“ (ihn nicht töten, ihn nicht verehren?). Oder — heilige Dialektik — den Horatier sowohl ehren (dem Sieger einen Lorbeer) als ihn auch töten (dem Mörder sein Schwert).

Seit Jahrtausenden hat man sich für die letzte Variante entschieden. Titus Livius schrieb Horatier-Geschichte, Bertolt Brecht, Pierre Corneille und Heiner Müller — eine Unheilslehre über Siegesmoral und die Gerechtigkeit der Dialektik. Jeder Richtspruch möge enden mit „sowohl ... als auch“, jedes Urteil zweiteilig gefällt werden: so auch das Urteil über Heiner Goebbels und Michael Simons Theaterprojekt Römische Hunde, uraufgeführt am Frankfurter Theater am Turm — ein „sowohl ... als auch“.

Sowohl: Die Horatiergeschichte als Oper setzt diese kleine, oben erzählte Anekdote zum Verständnis voraus. Jedes aufklärende Moment, das in dem Stück steckt, wurde ihr ausgetrieben. Die Geschichte ist ganz in Komposition getunkt: in großartige musikalische und optische Komposition. So entsteht allerdings das Gefühl, verrätselt zwar, vor einem Theaterwunder zu sitzen, im Kopf aber gelähmt und hinweggeträumt zu sein vor so viel Komposition. Plötzlich fallen Akten aus einem babylonischen Turm — Gerichtsakten? Stasi-Akten? Leere Deutungsträger einer Oper, die ihre Erzählung, ihren Inhalt aufgekündigt hat.

Wie bei Newtons Casiono, dem letztjährigen gemeinsamen Projekt des Komponisten Goebbels mit dem Bühnenbildner Simon, senken sich ein Lot vom Himmel (wie ein Geschoß, das durch die Bühnenelemente sich auf den tiefsten Grund senkt) und eine Meßlatte, angespitzt zu einem Speer. Richtmaße und -schnüre in ihrer symbolischsten Form, undeutbar aber als Maße der Gerechtigkeit. Elemente dennoch, die glauben machen, der Betrachter müßte dieses großartige Tableau entziffern. Wir weigern uns.

Auch der bühnenfüllende Babylonische Turm läßt denken: an Sprachenverwirrung. Man singt und spricht spanisch, italienisch, französisch, amerikanisch und deutsch. Spanisch im Gewand eines eleganten Conquistadore, italienisch ganz à la mode, französisch im Kostüm der Comédie francaise, amerikanisch im Jogginghemd, deutsch im modernen Biederfrack. Dieses weltweit exportierbare Singspiel sei sprachenverwirrt — nur weil wir dessen Inhalt nicht entziffern können? Nein.

Als auch: Sagen wir, diese Schwäche hat System. Die Bühnenzeichen verführen zwar zum Ratespiel, dem jedoch eine so geballte Kraft musikalischer Komposition entgegensteht, so viel optische Geometrie, daß wir endlich einmal behaupten wollen, diese Kunst hat keine Bedeutung, sie ist für sich bedeutend. Man erkennt sie, wenn man sie instinktiv als Meisterwerk bezeichnen will und nach beschreibenden Worten vergeblich ringt.

Man erkennt es am Effekt, verträumt dem Wechsel der Musik durch alle Stilarten gelauscht zu haben, unterbrochen von Landeanflügen, Helikoptergeratter und Straßenlärm — eine Szenerie jenseits aller Dialektik von „sowohl ... als auch“, mehr ein „alles auf einmal“, aber eben kunstvoll, weil geradlinig komponiert und eingerichtet. Das Publikum sitzt auf der Bühne, die monumentale Drehbühne ist ins Parkett gepflanzt; darauf ein schräges, turmhohes Gebilde, eine gewaltige Spieluhr, die zu Gratwanderungen der Sänger einlädt, zu Berg- und Talfahrten. Vor ihr eine Brecht-Gardine, ein Gazevorhang, wie ein Weichzeichner am Fotoapparat, der wie ein Schleier das Publikum verführt. Und unten befindet sich eine Reihe ungezählter Monitore, die Videoaufnahmen, ryhthmisch geführte Graphiken und dazwischen ein Heer römisch gewandeter Trommler in Schlachtordnung (aus Ben Hur?) zeigt.

All das bewegt sich auf einmal. Eine Drehmaschine, weiß Gott wie eine Spieluhr, aufgehängt an den Horatiern, komponiert aus Weltmusik, gesungen — unprätentiös, die Inhalte zentrifugal auseinandergeschleudert, 90 Minuten lang: so in einem Satz geurteilt; es ist, als könnte eine antike Anekdote, ein Potpourri aus europäischer Musikgeschichte, ein vielsprachiges Ensemble im Frankfurter Haus der europäischen Theateravantgarde neue, vergnügliche, kopflose, heitere, bombastische, unprätenziöse Kunst erzeugen. Arnd Wesemann

Römische Hunde: Heiner Goebbels (Musik) und Michael Simon (Bühne). Eine Produktion des TaT Frankfurt. Weitere Aufführungen: 17. bis 22., 27. bis 29. und 31.Dezember, 2. bis 4. Januar.

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