KOMMENTAR
: Frontstadt Berlin

■ Verantwortliche Stadtpolitik muß Außenpolitik sein

Keiner hätte vor einem Jahr sagen können, wie radikal die Welt sich wandeln würde, wie sehr der als historisch empfundene Fall der Mauer nur das Vorspiel zu wirklich globalen Neuorientierungen sein werde. Die Stadt ist darüber erneut zur Frontstadt geworden. Der totale Kollaps eines Systems wird auf unabsehbare Zeit die Großwetterlage über Berlin bestimmen. Der Absurditäten sind viele. In und um Berlin sind Soldaten eines Weltreiches stationiert, das es nicht mehr gibt. Achtzig Kilometer weiter östlich sind wir mit einer politischen Landkarte konfrontiert, deren Entschlüsselung mit fünfzehn neu entstandenen Staaten erst noch aussteht. Berliner Politiker müssen deshalb im Columbus- Jahr zu Entdeckern unbekannter und absehbar bewegter Meere werden. Denn Berlin selber ist in einer völlig anderen Situation als in der Vergangenheit: Es hat den Schutzmantel der besonderen Lage verloren. Berliner Stadtpolitik muß deshalb angesichts von unabsehbaren Problemen und einer konfliktträchtigen Armut im Osten immer mehr Außenpolitik sein.

Das abgelaufene Jahr zeigte, wie schwer sich der Senat mit der Außenpolitik schon im nationalen Maßstab tut, sei es beim ungeschickten Hantieren mit der Olympia-Bewerbung, dem ungestümen Drängen nach der Ehe Berlin-Brandenburg oder beim ohnmächtigen Erdulden der Bonner Verwässerungstaktik beim Hauptstadt-Umzug. Deswegen läßt aufhorchen, wenn der Regierende Bürgermeister in seiner Neujahrsansprache von der Kriminalität in der Stadt und von »ärgerlichen Staus« spricht, die Stadtgrenzen aber nur indirekt überschreitet: Das Zusammenfügen Berlins sei einer der »faszinierendsten Aufgaben der Gegenwart... in einem zusammenwachsenden Europa«. Welches Europa ist gemeint? Vom Kriegsbrand in Jugoslawien, der bereits Tausende von Flüchtlingen in die Stadt gebracht hat, kein Wort; von der zerfallenden Sowjetunion mit ihren dräuenden Nationalitätenkonflikten und dem Gerangel um die Atomwaffen ebenfalls nicht. Berlin, das muß die Stadt schnell lernen, fängt längst an der Wolga an. Gerd Nowakowski