SOMNAMBOULEVARD — TRAUMOKRATIE Von Micky Remann

Gegen Böller, Kracher und Raketen hat die schlafwandlerische Contenance wahrlich einen schweren Stand, muß aber als solche gewahrt bleiben, denn sonst wäre ja unsere ganze Raison d'être im Eimer. In Zeiten der Bedrohung, wie in der Silvesternacht, reichert man darum den luziden Schlaf am besten um eine Prise Fiebertraum an, und nicht umsonst hört man viele Leute auf dem Somnamboulevard singen: „Oh Fiebertraum, oh Fiebertraum, du bist mein Sekt im klaren Traum...“.

Erfahrene unserer Gilde sorgen durch rechtzeitige Unterkühlung und andere Unvorsichtigkeiten dafür, daß sie zum Jahreswechsel grippal derart halluzinieren, daß ihnen kein Feuerwerk etwas anhaben kann, welches nicht sofort in einen Kriegstraum eingeflochten wird. Hier erweist sich, wie ernst es einem damit ist, den internen Zustand gegen den Ansturm äußerer Stimuli zu verteidigen. Gerade jetzt kommt es darauf an, wir knöpfen uns die Projekte fürs neue Jahr vor und hoffen dabei auf Deine Mitwirkung. Folgendes: Mit Deinem Traum von heute nacht nimmst Du an einem somnambulen Urnengang teil, der darüber entscheidet, was wir im nächsten Jahr behandeln werden.

Es steht eine ganze Menge zur Auswahl, und wir möchten natürlich nicht an den Interessen des Publikums vorbeiträumen. Sei versichert, daß diese Wahl frei, allgemein, traumokratisch und geheim verläuft. Auf dem großen Farbmonitor der intersubjektiven Objektivität werden alle Träume der taz-LeserInnen im elektronischen Lichttest ausgezählt. Gewonnen hat der am häufigsten geträumte Traum, welcher automatisch Thema des nächsten Somnamboulevards wird, und damit auch in Deinem Sinne real. Kurz, Deinen Willen tust Du kund, indem Du ihn träumst.

Hier nun Dein Stimmzettel: Wenn Du wünschst, daß wir uns dem Thema „Menschenrechte für Traumkörper“ widmen, dann sollst Du Dir heute vorm Einschlafen vornehmen, von einem Roboter zu träumen, der gegen einen Eukalyptusbaum pinkelt. Wenn Du aber lieber „das Gehirn als virtuelles Cybermodul“ wählst, dann träume bitte von einem in eine tiefe Schlucht stürzenden Weihnachtsbaum, wir werden es sorgsam registrieren. Bist Du hingegen an „Sex auf dem Somnamboulevard“ interessiert, mußt Du heute nacht unbedingt von einem Karnickel träumen, das an einer Rübe nagt. Möchtest Du die Aussage „Träumen ist Leben im Winkel von 90 Grad“ näher behandelt wissen, dann stelle sicher, daß Du von einem Bügeleisen auf einer Brücke träumst. Sollte Deine Wahl aber auf das Thema „Tote flüchten sich ins Leben, Lebende in den Tod, Träumer in den Wachzustand und Wache in den Traum, und niemand kann jemand anderen auf Dauer davon abhalten, also gewähre man allen Asyl, denn jeder Zustand ist sowohl Urlaub vom als auch Flucht vor dem jeweils anderen Zustand“ fallen, dann träume heut nacht von einem Gnom, den Du fragst, was er von Dir wolle, und der Dir ins Ohr wispert: „Was fragst du mich? Das ist doch dein Traum!“