: Mutter schlachtet den Hund
■ Kleine Prosaarbeiten mit unwägbarem Ausgang: »Geh und vergib nicht« von Lothar Walsdorf
Eine Geschichte der verpaßten Entwicklungsmöglichkeiten jener in der DDR entstandenen Literatur muß noch geschrieben werden. Lothar Walsdorf, 1951 in Zittau geboren, darf als ein Beispiel gelten. Er wurde nicht vollends ignoriert, sein Entdecker Franz Fühmann verhinderte das. Er wurde somit nicht aus dem Land hinauskomplimentiert oder -genötigt, was immerhin Katja Lange-Müller, Wolfgang Hegewald, Jürgen Fuchs, Christa Moog, Einar Schleef und anderen erst den Eintritt in die öffentlich wahrgenommene deutsche Literatur ermöglichte.
Die Manuskripte Lothar Walsdorfs häckselten DDR-Verlagsmühlen buchreif. Drei oder vier Gedichtbände kamen so zu DDR-Zeiten heraus. Lothar Walsdorf schreibt viel und schleppt Interessierten die neuen Texte stapelweise ins Haus. Genaugenommen arbeitet er nicht an einzelnen Büchern, sondern dichtet ununterbrochen an einem einzigen Mega-Text für verschiedene Stimmen und literarische Ebenen. Das nervt jeden Lektor in jedem Verlag, der schließlich fertig wirkende Titel abliefern muß.
Trotzdem bleibt der Vorwurf, daß die Aufbau-Bände Lothar Walsdorf nicht nur vom Platz her reduzierten. Zu sehr betonten sie das Nette, das Kindlich-Naive — ein Uwe-Greßmann-Flair umflirrte das Heimkind aus Zittau. Nun stimmt das Greßmann-Flair schon bei Uwe Greßmann nicht, den außerdem auf dem altbundesdeutschen Buchmarkt sowieso keiner kennt.
Walsdorfs sich ansammelnde Texte differierten immer mehr von jenen wenigen ausgewählten Zeilen, die da und dort das Zeitschriftenlicht der Öffentlichkeit erblickten. Seine Prosa existierte da lange überhaupt nicht: »Ein roter Hahn wurde geschlachtet. Ihm wurde der Kopf abgehackt auf einem Klotz. Er riß sich los und flog ohne Haupt über den ganzen Hof in die Jauchengrube und fror dort fest.«
Solche herrlichen, leichthin geschriebenen Prosafetzen, voll von des Lebens Absurdität, darf der Leser jetzt erst kennenlernen. »Wir sollten den Hund abschaffen, wegen der Tollwut und der Steuer. Meine Mutter hat ihn einfach aufgegessen, da war er weg. Sie ist mit einem Tiegel voll Fett von Haus zu Haus gezogen und hat zu den Leuten im Dorf gesagt, seht mal, der Hund war so fett, weil er immer dasselbe gegessen hat wie wir. Dabei waren wir dürr wie zwei klapprige Pappeln.«
Zu DDR-Zeiten soll ein Lektor zu dem jetzt als Buch vorliegenden Prosakonvolut gesagt haben, das sei schlimmer als im Vernichtungslager Auschwitz. Eine dümmliche Kritik, nur weil der Tod umgeht im Buch. Und Kreativität an den Tag legt, möglichst junge Menschen auf möglichst niederträchtige Weise zu killen. Zum dritten Mal Walsdorf: »Meine Tochter hat im Milchhof gelernt. Da mußte sie immerfort die Kessel säubern. Da mußte sie einen Schlauch mit reinnehmen, zum Wasserspritzen und damit man sieht, daß einer drin ist. Das hat sie mal vergessen. Da ist sie drin ersoffen und wurde überdies noch mitgekocht. Die Milch war plötzlich so rosa, und es schwamm soviel Zellplasma drin rum.«
Damit wäre dem bösen Zufall Genüge getan. Walsdorf erzählt aber weiter: »Schließlich mußten sie die ganze Milch wegkippen. Dabei war sie so hübsch.« Nicht immer gelingt die Steigerung, an dieser Stelle gleitet die doppeldeutige Anspielung des Hübschseins — Milch oder Tochter — in einen abgeschmackten Gag über.
Der Titel des Buches erinnert an russische Dorfprosa und unterschlägt die spielerische Komponente, auf die sich der Leser bei Geh und vergib nicht einlassen muß. Der Untertitel »Eine Erinnerung« untertreibt das Bemühen um einen gestalteten Prosatext. Eine Kette von Demütigungen, einem Kinde zugefügt, knüpft sich vor dem Leser zu einer fast unerträglichen Qual — wären da nicht der seltsame Humor und eine poetische Lust an der Erzählung des Grausamen.
In dem Buch schlüpft Walsdorf in die Rolle einer Ich-Erzählerin. Will er damit die sanften, bilderreichen, die Grenze zum Kitsch manchmal streifenden Verse legitimieren?
Eine unnötige Hilfe, denn die besten stehen für sich und bringen den Dichter Lothar Walsdorf lyrisch pur in den Text. Während die Frauenrolle nicht zwingend scheint, erfüllen diese lyrischen Briefe — oft Rollentexte erdachter Personen oder personifizierter Erscheinungen — durchaus eine Aufgabe. Sie stellen ein Gegengewicht zur Realität gelebter Alpträume dar, selbst ihre gelegentliche Manieriertheit paßt exakt zur Maßlosigkeit der Wünsche der agierenden Person.
Das Leid auf der einen Seite fordert geradezu die Sehnsucht nach einer schmerzfreien Welt. »Ich kannte mal eine, die liebte sich so lange, bis sie ein Reh wurde und vor sich selbst in den Wald floh.«
Walsdorfs Buch lebt von der Intensität des Details, nicht von der zwingenden Konstruktion des Ganzen. Es präsentiert einen originellen Autor, der so ein Buch erst jetzt vorlegen konnte. Lutz Rathenow
Lothar Walsdorf: Geh und vergib nicht. Eine Erinnerung. Prosa. Literatur-Bibliothek Freisinga, Freising. 168 Seiten, 28 DM
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