: Die Konferenz am großen Wannsee
■ Die Koordination des Mordes an den europäischen Juden - ein Spitzengespräch deutscher Sicherheitsexperten und Staatssekretäre
Weder Hitler noch Himmler, weder Göring noch Goebbels nahmen teil, nicht ein einziger Minister. Versammelt hatten sich heute vor 50 Jahren acht Staatssekretäre, ein Ministerialdirektor und sechs Polizei- und Sicherheitsexperten. Im Durchschnitt waren die Versammelten 41 Jahre alt; acht schmückten sich mit einem Doktortitel. Im amtsinternen Sprachgebrauch wurde dieses Treffen als „Konferenz der Staatssekretäre“ bezeichnet — heute spricht man von der Wannseekonferenz.
Vertreten waren das Innen- und Justizministerium, die Reichskanzlei, die Parteikanzlei der NSDAP, das Auswärtige Amt. Das neu gegründete Ministerium für die besetzten Ostgebiete delegierte gleich zwei Abgesandte — wohl deshalb, weil es in den Monaten zuvor heftigst um eine eigene Zuständigkeit für die „Lösung der Judenfrage“ gekämpft hatte. Der Staatssekretär Erich Neumann vertrat den Generalrat für den Vierjahresplan, einer von Göring geleiteten Superbehörde für alle (kriegs)wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen des Deutschen Reiches. Dieser Generalrat arbeitete ebenfalls auf der Ebene der Staatssekretäre, die sich als die eigentlichen Macher und Krisenmanager des Dritten Reiches verstanden. Neumann repräsentierte auf der Wannseekonferenz die Ministerien für Arbeit, Ernährung, Wirtschaft, Verkehr und Finanzen, ebenso die Wehrwirtschaftsführung.
Die Besprechung begann um 12 Uhr, dauerte etwa zwei Stunden und endete mit einem gemeinsamen Essen. Der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, Reinhard Heydrich, führte den Vorsitz, Adolf Eichmann und eine Stenotypistin führten Protokoll. Überliefert ist keine Mitschrift der Konferenz, sondern eine Zusammenfassung — 15 eher locker beschriebene Seiten. Sie sind alles andere als eine genaue Wiedergabe des Diskussionsverlaufs. Man muß das Dokument als Versuch lesen, Ergebnisse der Konferenz aus der Sicht des Reichssicherheitshauptamtes zu zementieren und bestimmte Fragen, über die keine Einigkeit erzielt werden konnte, durch Formelkompromisse offenzuhalten.
Heydrich hatte die Wannseekonferenz nicht einberufen, um die „Frage der Endlösung“ selbst zu diskutieren. Vielmehr ging es ihm darum, technische und organisatorische Probleme zu erörtern, Kompetenzstreitigkeiten zu klären, insbesondere mit dem Ostministerium, und darum, ob die „Mischlinge“ und in „Mischehe“ Lebenden der „Endlösung“ unterworfen werden sollten. Schließlich war das Ziel der Konferenz, unterschiedliche Behörden präzise zu koordinieren, um den millionenfachen Mord reibungslos durchzuführen. Die beteiligten Männer sahen ihr Organisationstalent herausgefordert. Sie diskutierten die „Parallelisierung der Linienführung“, also die Frage, wie das längst vorher diskutierte und beschlossene, seit Monaten begonnene Programm effizient vorangetrieben, verbessert und beschleunigt werden könnte.
Die eigentlichen Grundsatzentscheidungen sind in den Monaten März bis Juli 1941 getroffen worden. Der 31. Juli 1941 ist die entscheidende Zäsur. Die zentrale Entscheidung für den Mord an der europäischen Judenheit wurde aller Wahrscheinlichkeit am 16. Juli 1941 zwischen Bormann, Keitel, Göring, Rosenberg, Lammers und Hitler ein letztes Mal verhandelt und getroffen.
Waren in den Wochen seit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion vor allem jüdische Männer zu Opfern der Einsatzgruppen in der Sowjetunion geworden, so waren es von den ersten Augusttagen an auch — und oft sogar bevorzugt — Frauen, Kinder und alte Leute. Ausdrücklich meldeten die Exekutionskommandos von nun an die Erschießung von „Judenweibern“, von „Jüdinnen und Judenkindern“, die „Vernichtung von Juden beiderlei Geschlechts und aller Altersklassen“. Nachdem Eichmann im August das Konzentrationslager Auschwitz besucht hatte, fanden dort vom 3. bis 6. September die ersten „Probevergasungen“ mit dem Insektenvertilgungsmittel Zyklon B statt. Die Opfer waren sowjetische Kriegsgefangene. In diesen Wochen wurde auch die Errichtung des Vernichtungslagers Belzec und der Gaswagenstation in Chelmno beschlossen. Am 10. Oktober 1941 leitete Heydrich eine Besprechung über die „Lösung der Judenfrage“ im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren. Das Protokoll dieser Besprechung vermerkt, daß von insgesamt 88.000 erfaßten tschechischen Juden 50.000 nach Minsk und Riga deportiert und dazu die „lästigsten Juden herausgesucht werden“ sollten — gemeint sind Menschen, die zu keiner kriegswichtigen Arbeit verwendbar waren. Sie sollten „in die Lager für kommunistische Häftlinge hineingenommen“ werden — was nichts anderes bedeutete, als sie umstandslos erschießen zu lassen; denn Lager für kommunistische Häftlinge gab es in den deutsch besetzten Teilen der Sowjetunion nicht. Am 14. Oktober stellte die Polizei die ersten Befehle zur Deportation deutscher Juden aus. In seiner Einladung zur Wannseekonferenz hatte Heydrich geschrieben: „Am 31.7.1941 beauftragte mich der Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches [d. i. Hermann Göring, d. Red.] unter Beteiligung der in Frage kommenden anderen Zentralinstanzen, alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht für eine Gesamtlösung der Judenfrage in Europa zu treffen und ihm in Bälde einen Gesamtentwurf hierüber vorzulegen. In Anbetracht der außerordentlichen Bedeutung, die diesen Fragen zuzumessen ist, und im Interesse einer gleichen Auffassung bei den in Betracht kommenden Zentralinstanzen an den übrigen mit dieser Endlösung zusammenhängenden Arbeiten rege ich an, diese Probleme zum Gegenstand einer gemeinsamen Aussprache zu machen.“
Den von Göring angeforderten, „in Bälde“ vorzulegenden „Gesamtentwurf“ hatte Heydrich bis zur Wannseekonferenz noch nicht abgegeben, er tat es erst nach dem für ihn weitgehend erfolgreichen Verlauf der Konferenz. Wahrscheinlich gab Heydrich das Gesamtkonzept im Februar ab. Es ist bislang nicht aufgefunden, seine Existenz aber in einer Tagebucheintragung Goebbels' vom 7. März 1942 dokumentiert: „Ich lese eine ausführliche Denkschrift des SD und der Polizei über die Endlösung der Judenfrage. Daraus ergeben sich eine Unmenge von Gesichtspunkten. Die Judenfrage muß jetzt im gesamteuropäischen Rahmen gelöst werden.“ Nachdem Heydrich den gesamten, schon durch eine ausgedehnte Praxis fundierten Mordplan abgeliefert hatte, erhielt er offiziell den Titel des von Göring „bestellten Beauftragten für die Endlösung der europäischen Judenfrage“.
Zu Beginn der Wannseekonferenz gab Heydrich — wie üblich in freier Rede — einen „kurzen Überblick über den bisher geführten Kampf“. Er berichtete von den „Auswanderungsarbeiten“, das heißt von der Vertreibung der jüdischen Minderheit, nicht nur aus den „einzelnen Lebensgebieten des deutschen Volkes“, sondern auch von ihrer „Zurückdrängung“ aus dem gesamten „Lebensraum“. Dazu gehörte nach Ansicht der Konferenzteilnehmer das gesamte Europa.
Durch politischen Terror und zuletzt durch die — im Januar 1939 nach den Novemberpogromen und ebenfalls auf Anweisung Görings gegründete — Reichszentrale für jüdische Auswanderung waren in der Zeit seit dem Machtantritt der NSDAP bis zum 31. Oktober 1941 insgesamt 537.000 deutsche, österreichische und tschechische Juden „zur Auswanderung gebracht“ worden. Dabei habe man sich, so heißt es im Protokoll weiter, bemüht, „den Verbleib der verproletarisierten Juden zu vermeiden“, indem vermögende Juden gezwungen wurden, die Auswanderung der armen zu finanzieren. Außerdem hatten die Behörden, um den „deutschen Devisenschatz zu schonen“, dafür gesorgt, daß ausländische jüdische Hilfsorganisationen die zur Auswanderung notwendigen Devisen von „insgesamt rund 9.500.000 Dollar“ bereitstellten. Im Hinblick auf die immer restriktiveren Einwanderungsbestimmungen des Auslandes, die im Krieg besonders großen Schwierigkeiten, überhaupt auszuwandern, und im Hinblick auf die „Möglichkeiten des Ostens“ habe sich aber nun eine neue Perspektive ergeben. Heydrich: „Anstelle der Auswanderung ist nunmehr, nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer, als weitere Lösungsmöglichkeit die Evakuierung nach Osten getreten.“ „Genehmigung“ — nicht etwa Befehl! Die „Möglichkeiten des Ostens“ werden im Protokoll als „Arbeitseinsatz“ beschrieben, bei dem „zweifelsohne ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen“ werde: Der „verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesen zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil [der Juden] handelt, entsprechend behandelt werden müssen.“ Diese Passage setzt die sofortige Ermordung aller Nichtarbeitsfähigen, insbesondere der Kinder, Kranken und Alten stillschweigend voraus, eine Praxis, die sich nicht nur im besetzten Westen der Sowjetunion, sondern — seit Dezember — auch im Ghetto Lodz eingespielt hatte.
Vermutlich als Tischvorlage wurde auf der Wannseekonferenz eine Übersicht über insgesamt 11 Millionen jüdische Menschen in ganz Europa herumgereicht. Sie ist dem Protokoll der Konferenz beigefügt, in die Teile A. und B. gegliedert und nach Ländern aufgeschlüsselt. Diese Aufstellung dokumentiert offen und verdeckt auch genaue Zahlen über die bereits Deportierten und Ermordeten:
Estland, wo etwa 4.500 Juden gelebt hatten, ist als „judenfrei“ vermerkt; für Lettland gibt die Aufstellung 3.500 Juden an, etwa 60.000 waren es zu Beginn der deutschen Besatzung gewesen; von ursprünglich 200.000 litauischen Juden weist die Statistik noch 34.000 aus. In Serbien lebten von einst mehr als 30.000 noch 10.000 jüdische Menschen; drei Monate später waren auch sie fast ausnahmslos tot. In der stets dezenten Sprache des Auswärtigen Amtes hieß das: „Die Judenfrage ist in Serbien nicht mehr akut.“
Für das „Altreich“ und die „Ostmark“ (Österreich) wird im laufenden Text des Protokolls zum Stichtag 31.10.1941 eine Zahl von 280.000 jüdischen Einwohnern angegeben. In der statistischen Anlage ist nur noch von 175.000 die Rede. Es wurden demnach in den wenigen Wochen zwischen dem 31. Oktober 1941 und dem 20. Januar 1942 genau 105.000 deutsche und österreichische Jüdinnen und Juden deportiert, aus dem Protektorat Böhmen und Mähren im selben Zeitraum 13.800. An ihren Ankunftsorten — etwa Riga, Minsk oder Lodz — wurden sie, obwohl noch nicht alle ermordet worden waren, nicht mehr als lebend registriert. Wenn auch kryptisch, so liefert das Protokoll dafür eine Begründung: „Die evakuierten Juden werden zunächst in sogenannte Durchgangsghettos verbracht, um von dort weiter nach Osten transportiert zu werden.“ In diesem Zusammenhang wurden auch „gewisse vorbereitende Arbeiten im Zuge der Endlösung“ erörtert, wahrscheinlich eher „klassische“ Mordpraktiken und solche, die ganz neu entwickelt worden waren.
Die Programme für die in Teil A. der statistischen Übersicht genann
ten Länder standen im Kern fest. Sie hatten Priorität. Teil B. der Aufstellung enthält in alphabetischer Reihenfolge abhängige, verbündete, gerade künstlich geschaffene oder noch nicht besetzte Länder Europas — darunter auch England — und addiert die Zahl der dort jeweils lebenden jüdischen Menschen. Hier war das Wirkungsfeld des Auswärtigen Amtes umrissen, das in allen einschlägigen Botschaften Judenreferenten beschäftigte und das „Einvernehmen“ mit den jeweiligen mehr oder weniger abhängigen Regierungen, etwa in Rumänien oder in Vichy-Frankreich, herzustellen versuchte. Mit unterschiedlichem Erfolg.
Der Teil B endet mit der UdSSR. Stutzig macht eine spezielle Untergliederung: Für die Sowjetunion insgesamt wurde pauschal angegeben, daß dort fünf Millionen Menschen jüdischer Religion oder jiddischer Sprache lebten. Für die Ukraine speziell aber gibt die Statistik exakt 2.994.684 Menschen an, für Belorußland 446.484. Die Genauigkeit dieser Angaben ist einerseits nichts als statistischer Schein; andererseits zeigt sie, daß die Statistiker des Reichssicherheitshauptamts fortlaufend Zwischenbilanz zogen und die Zahl der Erschossenen, die ihnen per „Ereignismeldungen“ mitgeteilt wurde, regelmäßig von einer geschätzten Ausgangszahl der jüdischen Bevölkerung abzogen.
Auf der Wannseekonferenz wurden auch die Erfahrungen diskutiert, die SS und Schutzpolizei im Herbst 1941 in Lettland und Belorußland bei der Erschießung einiger tausend deutscher Jüdinnen und Juden gesammelt hatten. Abtransportiert und umgebracht hatte man insbesondere Menschen, die keine kriegswichtige Arbeit leisteten, also Kinder, Mütter, gebrechliche und alte Leute, selbst dann, wenn diese im Ersten Weltkrieg Frontkämpfer gewesen waren. Das hatte eine Reihe von Eingaben und Anfragen zur Folge gehabt. Außerdem mußte sich das Ostministerium damit auseinandersetzen, daß die halb öffentlichen Massenexekutionen der Bevölkerung vor Ort nicht verborgen blieben und sie darauf mit Unruhe reagierte. Die Massenerschießungen deutscher Juden in Minsk und Riga hatten Kritik provoziert, und Himmler hatte dieses allzu öffentliche Morden acht Wochen zuvor auf Druck einiger Konferenzteilnehmer einschränken müssen. Deshalb formulierte Heydrich am 20. Januar mit äußerster Vorsicht: „Diese Aktionen sind jedoch nur als Ausweichmöglichkeiten anzusprechen.“ Dann wandte er sich an seine schweigend dabeisitzenden Mordpraktiker und nahm sie in Schutz, hätten sie doch bei diesen Aktionen „bereits praktische Erfahrungen gesammelt, die im Hinblick auf die kommende Endlösung der Judenfrage von wichtiger Bedeutung sind“. Im gleichen Atemzug erklärte er, wie künftig Proteste und Nachfragen vermieden werden sollten, nämlich durch bessere Selektion: „Es ist beabsichtigt, Juden im Alter von über 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto — vorgesehen ist Theresienstadt — zu überstellen. Neben diesen Altersklassen (...) finden in den jüdischen Altersghettos weiterhin schwer kriegsbeschädigte Juden und Juden mit Kriegsauszeichnung (EKI) Aufnahme. Mit dieser zweckmäßigen Lösung werden auf einen Schlag die vielen Interventionen ausgeschaltet.“ Theresienstadt war freilich auch nur Zwischenstation; soweit die Deportierten dort nicht an Mangel und Entkräftung starben, wurden die meisten von ihnen 1943 weiterdeportiert — nach Auschwitz.
An einer Stelle ist im Protokoll nicht von „Endlösung“ die Rede, sondern — im Plural — von „Endlösungsvorhaben“. Diese Formulierung könnte auf unterschiedliche Methoden, Zeitpunkte und Orte des Mordens hinweisen, sie könnte aber auch bedeuten, daß schon mehr geplant war — mehrere „Endlösungen“ für verschiedene Gruppen potentieller Opfer —, schließlich stellten sich die Bevölkerungsplaner die sogenannte Asozialenfrage, die Zigeunerfrage, die Polen-, Tschechen- und die Russenfrage... Schon am 10.Oktober hatte Heydrich die Deportation der „Zigeuner“ zusammen mit der „Lösung der Judenfrage“ abgehandelt, und wenige Tage vor der Wannseekonferenz waren 5.000 Sinti und Roma aus dem Lodzer Ghetto im nahegelegenen Chelmno ermordet worden.
Besonders ausführlich aber sprachen die Konferenzteilnehmer über die genaue Definition derjenigen, die umgebracht werden sollten: „Wichtige Voraussetzung“, so führte Heydrich weiter aus, „für die Evakuierung überhaupt ist die genaue Festlegung des in Betracht kommenden Personenkreises.“ Die bürokratische Hermetik, das Verfahren der genauen meldepolizeilichen Erfassung, das fast jeden Irrtum ausschloß und das die Opfer ebenso lähmte wie mögliche Zweifler, gehört zu den wesentlichen Voraussetzungen des systematischen Mordes an der jüdischen Minderheit in Europa.
Wegen dieser als vorrangig erachteten klaren und bürokratisch leicht zu handhabenden Abgrenzung der Opfer von der übrigen Bevölkerung ließ Heydrich womöglich auch von seinem ursprünglichen Vorhaben ab, „auf dieser Sitzung (...) die Ausdehnung des Judenbegriffs auf Mischlinge ersten Grades und die Schlechterstellung der bisherigen Mischlinge zweiten Grades (zu) besprechen“ und einen Beschluß herbeizuführen, der die Nürnberger Gesetze abändern und die „Halbjuden“ in die Vernichtung von vornherein mit einbeziehen sollte. Heydrich setzte sich mit diesem Vorhaben auf der Konferenz nicht durch, offensichtlich rechnete er damit. Möglich ist immerhin auch, daß er das Thema nur deshalb ausbreitete, um die versammelten Herren mit einer Nebensache zu beschäftigen oder um die kompetenzpusseligen Herren vom Ostministerium, die immer wieder eine Ausweitung des „Judenbegriffs“ gefordert hatten, besser einzubinden. Vorsichtig und „zunächst theoretisch“ schnitt Heydrich an, daß die „Voraussetzung für die restlose Bereinigung des Problems auch die Lösung der Mischehen und Mischlingsfragen ist“. Der Staatssekretär des Innenministeriums, Stuckart, wies dies mit dem Argument zurück, sie bringe „eine unendliche Verwaltungsarbeit mit sich“, statt dessen „schlug er vor, zur Zwangssterilisierung zu schreiten“. Anders als das an dieser Stelle besonders nebulös formulierte Protokoll der Wannseekonferenz hält ein wenig später vom Ostministerium niedergelegter Vermerk als „Ergebnis der Staatssekretärbesprechung vom 20.Januar 1942“ fest, daß „die Mischlinge ersten Grades nur sterilisiert, aber im Reich verbleiben sollten“. In einem handschriftlichen Vermerk des Rasse-Referenten im Ostministerium steht: „20. 1. Staatssekretär Besprechung: Mischlinge 1. Grades nicht schlechter als bisher. Frage nur zur Erörterung gestellt, allg. Ablehnung auch Führerkanzlei.“
Neben dem von Heydrich formulierten Vorschlag, die „Halbjuden“ ebenfalls umzubringen, gab es auf der Wannseekonferenz noch einen weiteren Anlaß für eine kleine Meinungsverschiedenheit: Es ging um die Frage, in welchen Regionen mit der „Endlösung“ zu beginnen sei. Heydrich hatte vorgeschlagen (und er praktizierte das ja bereits): „Das Reichsgebiet einschließlich Protektorat Böhmen und Mähren wird, allein schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial-politischen Notwendigkeiten, vorweggenommen werden müssen.“ Anschließend sollte Europa „von Westen nach Osten“ nach jüdischen Männern, Frauen und Kindern „durchkämmt“ werden.
Dem entgegnete der Staatssekretär Josef Bühler aus der Regierungskanzlei des Generalgouvernements: „Das Generalgouvernement (...) würde es begrüßen, wenn mit der Endlösung dieser Frage im Generalgouvernement begonnen würde, weil einmal hier das Transportproblem keine übergeordnete Rolle spiele und arbeitseinsatzmäßige Gründe den Lauf der Aktion nicht behindern würden. (...) Von den in Frage kommenden etwa 2 1/2 Millionen Juden sei überdies die Mehrzahl der Fälle arbeitsunfähig.“ Die Konferenz endete mit der Bitte Heydrichs um entsprechende Unterstützung bei der „Durchführung der Lösungsarbeiten“.
Von ursprünglich 30 Ausfertigungen der Niederschrift über die Konferenz am Großen Wannsee ist nur eine erhalten — rein zufällig, dank einer Schusseligkeit, die dem Auswärtigen Amt bei der zentral angeordneten Aktenvernichtung am Ende des Krieges unterlief. Ohne diesen kleinen Fehler, gäbe es den heutigen Gedenktag nicht, diese Konferenz wäre so unbekannt, wie es viele ähnliche oder noch entsetzlichere Konferenzen für immer bleiben werden. Das Protokoll vom 20. Januar 1942 ist nur der fahle Abglanz eines Diskussions- und Entscheidungsprozesses zwischen den damaligen militärischen, zivilen und polizeilichen Führungseliten des Deutschen Reiches, Eliten, die das Jahr 1945 zum großen Teil unbeschadet überstanden. Wie haben die Männer, die so protokollierten, miteinander telefoniert, und welche Bemerkungen, welche einverständigen Blicke haben sie sich am Rande ihrer zahllosen formellen und informellen Treffen zugeworfen? Das Protokoll ist in der üblichen Tarnsprache der „Geheimen Reichssache“ formuliert, die Begriffe wie „abschieben“, „umsiedeln“, „durchschleusen“ der klaren Benennung des Tötens vorzog. Diese Sprache diente nur bedingt der Geheimhaltung, sie sollte den Massenmord mit Hilfe aseptischer Begriffe leichter verwaltbar machen und ihn — das waren Absicht und Erfolg der Konferenz — in den bürokratischen Alltag des deutschen Staates einfügen. Selbstverständlich konnte, wie schon bei den vorangegangenen „Euthanasie“-Morden, nicht wirklich verhindert werden, daß Informationen über die Morde an Zehntausenden und bald Millionen Menschen schnell durchsickerten. Die prinzipielle Geheimhaltung war vor allem auch eine Offerte an die Deutschen, sich aus der persönlichen Verantwortung zu stehlen, nichts wissen zu müssen, das eigene Gewissen zu verschließen — eine passive Komplizenschaft mit der Regierung einzugehen. Mehr wurde nicht verlangt, mehr war in Deutschland nicht nötig.
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