: Alle Geschichten sind wahr
Initiation und Phantasie bei Leonora Carrington und Paula Rego ■ Von Uta Ruge
Fast die Hälfte ist geköpft. Graue Eichhörnchen bewohnen die Rumpfbäume, die keine Kronen mehr tragen. Entlang der Serpentine, einem schmalen länglichen See zwischen Kensington Gardens und Hydepark in London, erheischt allerlei Wassergeflügel Nahrung von uns Spaziergängern; Frauen und Kinder werden neben der Statue von Peter Pan, dem fliegenden Jungen, der nicht erwachsen werden wollte, von ihren Männern und Vätern geknipst. Am Ende des Weges, kurz bevor man Straße und Motorenlärm wirklich hinter sich gelassen hat und beides vor einem schon wieder anfängt, steht die Galerie, ein ebenerdiges, kleines Haus. An ihrem Eingang hat sich trockenes Winterlaub gesammelt.
Sofort steht, mitten im Raum, eine Frau mit dem Kopf einer Katze vor mir. Ihr schmaler, aufrechter Leib ist mit Figuren bemalt: Unter den Brüsten zwei Frauen und ein Kind, Fabelwesen, über ihnen ein blaues Pferd; auf dem Rock, zu dem sich die Beine der Katzenfrau bis zu den Füßen schließen, zwei Tote oder Schlafende in einem Wald, aus ihnen steigen, wie an Nabelschnüren hängend, je Blume und Hund empor. Sie alle sind von weißem gehörnten Vieh bewacht, und knapp über den Füßen, halb aufgerichtet, knäuelt sich eine Schlange.
Die knapp über zwei Meter hohe Holzplastik Katzenfrau (oder: Grand Dame) von Leonora Carrington aus dem Jahr 1951 ist eine Überraschung. Sie sieht freundlich aus — ein bißchen traurig vielleicht, wie von zu viel Wissen geladen, aber sie ist kein bißchen das, was ich von einer surrealistischen Künstlerin erwarten würde: nicht zerstückelt und zusammengesetzt, weder aggressiv noch witzig deformiert, wie in den Collagen von Hanna Höch beispielsweise, oder in verrückte, verrückende Bezüge gesetzt.
Verblüfft wende ich mich den Bildern, Zeichnungen und einigen wenigen plastischen Arbeiten der Künstlerin zu. Auch in ihnen setzt sich fort, was die Katzenfrau versprochen hat: Fabelwesen und Gestirne, kosmologische und symbolische Bezüge. Eine Bilderwelt, in der sich miteinander verbindet, was unverbunden ist, und in der eine pseudo-naive Fremdheit herrscht, die vielleicht manche an die mexikanische Malerin Frida Kahlo erinnert; ein phantastischer Reichtum an Formen, Farben und Szenen, jedoch kaum ein Anflug von Moderne, der Selbstinfragestellung von Kunst etwa. „Kinderzimmer-Surrealismus“ hat ein Londoner Kritiker dies genannt. Zunächst war ich geneigt, ihm zuzustimmen.
Zwei Ausstellungen
In London sind im Januar zwei Ausstellungen gleichzeitig zu sehen: eine Retrospektive der aus der Zeit des französischen Surrealismus bekannten Leonora Carrington, die heute über 70jährig in Chicago wohnt; und die Ausstellung Tales from the National Gallery der portugiesischen Malerin Paula Rego, die 1990 als „Artist in Residence“ in der Nationalgalerie ansässig war und seit 15 Jahren in London lebt.
Auf den ersten Blick sind ihre Arbeiten in jeder Hinsicht verschieden, vieles an ihnen gar gegenläufig. Carrington malt kleine Formate, ihr Farbauftrag — oft in einer Mischtechnik von Öl und Tempera auf Holz oder Leinwand — ist dünn; ihre Palette besteht aus wenigen kräftigen Gelb-, Blau- und Rottönen und unzähligen subtilen Erd- und Himmelsfarben, in die sich mal Gold und mal Silber mischt. Paula Regos Bilder dagegen sind riesig, Acryl auf Papier und Leinwand, gemalt in verschwenderisch kräftigen und verführerisch simplen, ungemischt wirkenden Farben. Alles an ihnen ist massiv und zupackend kräftig, nicht zuletzt die Gestalten, die sie bevölkern. Hyperrealistisch und fast lebensgroß drängen vor allem die Mädchen und Frauen sich und ihr Drama, eingefangen in einem einzigen szenischen Moment, dem Blick der Betrachterin auf. Die Wesen in Carringtons Bildern dagegen sind oft flüchtig, mit fließendem Pinselstrich bleibt ihre Existenz mehr angedeutet als ausgemalt, und ihre eleganten Gliedmaßen scheinen sich in der Berührung mit zuviel Luft gleich wieder auflösen zu wollen. Wo Paula Rego ihren Menschen eindeutig ein Geschlecht zuweist, läßt Leonora Carrington sie nicht einmal unbezweifelbar Menschen sein, stattet sie mit Wolfs- und Fischkopf, mit Pferdehuf und Federkleid aus.
Gemeinsam ist ihnen jedoch die Herstellung einer Welt, einer Traumwelt vielleicht, die unsere Blickrichtung mit großer Geschwindigkeit zu verkehren und auf uns selber zu lenken versteht.
Debütantinnen
Wer vor Paula Regos neuen Bildern steht, ist vorher an unzähligen Gemälden in der Nationalgalerie vorbeigegangen — eine angemessene Vorbereitung, denn die Aufgabe der „residierenden Künstlerin“ war es, sich in ihrer Arbeit mit den hier ausgestellten Schätzen der Kunstgeschichte auseinanderzusetzen. Diese erdrückend vollen Wände, von denen die in Form und Farbe gebrachten Gestalten religiöser und klassischer Erzählungen auf uns niedersehen! Und jetzt auch noch dieses riesengroße Bild mir gegenüber, zu dessen zentraler Figur ich mit offenem Mund aufblicke: zum Anfassen kompakt, fast steinern, ein blaues trägerloses Ballkleid, aus dem Schulter, Arm und Kopf eines großen, linkischen Mädchens emporwachsen. Neben ihr die so viel kleinere Mutter, oder: eine ältere Frau, die mit leichtem Triumph mehr auf das Kleid als auf das Mädchen zeigt, dabei ihre andere Hand steif und geziert vom eigenen Körper abwinkelt. Meisenmutter und Kuckucksei ... Feindinnen ...
Fitting ist das Bild betitelt, die Anprobe, und richtig kniet da auch die Schneiderin, eine Aschenputtelschwester. Und warum sind die Beine des kleinen Mädchens, das da im roten Sessel im Hintergrund sitzt, so steif? Und was bedeutet die Spanierin, die hinter einer Art Altar aus dem Nebenzimmer auf die Szene blickt, und was der Altar?
Dieses Bild erzählt eine Geschichte, illustrierend wie ein Comic und geheimnisvoll wie ein Bild von de Chirico. In der Mitteltür des braunen Schrankes, der an der bildabschließenden, grellgrünen Wand steht, ist ein Relief — Hinweis auf Andrea Mantegnas Samson und Delilah von 1490, das wie ein Marmorrelief gemalt ist und die Figuren der Erzählung darstellt wie aus Stein.
Deutlich erkennt man auf Regos „Bild im Bild“ — in der Schranktür — eine Frau mit einem Kind im Arm, die von einer Schweinsköpfigen bedroht oder erschreckt wird.
Die Malerin erklärt uns im Katalog ihre Version des Mädchens, das zu seinem ersten Ball geht; sie fordert von uns aber auch den eigenen Text. Was sie jedoch nicht zurücknehmen kann, ist dieses starre und doch merkwürdig unruhige, gleichsam aus seinem eigenen Rahmen fallende Bild, sein zu großes Format, die zu grellen Farben, zu kleinen und zu großen Figuren, die Bedrohlichkeit der ganzen Szene. Weibliche Opfer- und Täterschaft changieren zwischen dem Bildpersonal wie auf einer Bühne, auf der mal die eine, mal die andere Person das Immergleiche erzählt und dadurch ständig unseren Blickwinkel verändert.
Paula Regos Bilder haben sich seit ihrer Mädchen und Hund-Serie von 1986 immer stärker zu neorealistisch gemalten Geschichten entwickelt. Zu Anfang der achtziger Jahre malte sie, in der Tradition Dubuffets, fließender, weniger kompakt und illustrierend. Ihre in Strich und Farbgebung kindlich anmutenden Bilder trugen jedoch auch damals schon Erzähltitel wie Roter Affe schlägt seine Frau (1981) oder Schwangeres Kaninchen erzählt es ihren Eltern (1982). Mit der Mädchen und Hund- Serie von 1987 und 1988 nimmt sie das Thema einer bedrohlichen und potentiell ins Sadistische umkippenden Dominanz des Weiblichen auf, die in den darauf folgenden Gemälden schließlich in dieser kompakt- statuarischen Manier ausgeführt werden. Eine Serie von Familiensujets, 1988 einem größeren Publikum in der Serpentine Gallery vorgestellt, tragen Titel wie Die Tochter des Soldaten (eine Gans rupfend), Die Tochter des Polizisten (mit verkniffen-lüsternem Gesicht einen Stiefel putzend) oder Die Schwester des Kadetten (ein kräftiges bilddominierendes Mädchen schnürt einem dünnen Jüngling die Schuhe). In den leeren Raum um die personae dramatis sind Zeichen gestreut, Miniaturmenschen und -tiere wie Spielzeug, die das Kindlich-Unerwachsene der großen Mädchen auf paradoxe Weise unterstreichen.
Zwischen diesen und den jetzt in der Nationalgalerie vorgestellten Gemälden liegen 30 Radierungen von Rego, Illustrationen zu Kinderliedern, den berühmten englischen Nursery Rhymes.
Nursery
Der bereits zitierte Londoner Kritiker hatte Leonora Carringtons Malerei als „nursery surrealism“ bezeichnet. Nursery, das Kinderzimmer, steht gleichzeitig für Kindheit und — in der Traditon einer unendlichen Zahl englischer Nursery- und Nonsensverse — als Begriff für eine Topsy-turvy-Welt, in der alles auf dem Kopf steht, die Kleinen groß und die Großen klein, die Dummen klug und die Klugen dumm sind. Von Jonathan Swifts Gullivers Reisen bis Lewis Carrolls Alice im Wunderland — deren Reise durch die alten Nursery Rhymes führt — sind die Beispiele Legion.
Mit diesem Wort steht der Londoner Kritiker auf trügerischem Boden. Denn die grotesken Harmlosigkeiten der Kinderverse von Mother Goose Tales, die zu Anfang des 18.Jahrhunderts das erste Mal gesammelt publiziert worden waren, sind inzwischen als christlich-puritanische Verballhornungen beziehungsweise Säuberungen früher Volks- und Liebeslieder erkannt worden. Ähnlich den Grimmschen Märchen sind auch sie Texte der Initiation in eine keinesfalls harmlose Welt, in der unter vie-
len verschiedenen Masken die eigenen Wünsche und Ängste ihre heftigen Kämpfe austragen.
Die Arbeiten der Malerinnen zeigen, wie aus der Stickluft des bürgerlichen Kinderzimmers überbehütete Kinder in eine Welt der Repräsentation entlassen werden. In der erwähnten Anprobe und einem weiteren Bild, Die Patin des Stierkämpfers, thematisiert Paula Rego die Initiation solcher Kinder, die keine mehr sind. Und Leonora Carringtons wohl berühmtestes Gemälde, das Selbstporträt von 1936/37 (auch The Inn of the Dawn Horse genannt) bezieht sich auf eben diesen Moment des Realitätseinbruchs, der zum entscheidenden Moment der Herstellung von sozialer — und das heißt auch sexueller — Identität wird.
Als Leonora Carrington dieses Bild malte, lebte sie, auf der Flucht vor solcher Repräsentation, zumal als Millionärstochter, mit dem surrealistischen Maler und Bildhauer Max Ernst in Südfrankreich. Dort malte sie nicht nur, sondern schrieb phantastische Erzählungen, unter anderem die Kurzgeschichte Die Debütantin. Darin freundet sich die Ich- Erzählerin mit einer Hyäne an und läßt sie an ihrer Stelle zum ersten Ball gehen. Vorher jedoch tötet und frißt die Hyäne das Dienstmädchen des herrschaftlichen Fräuleins, bis auf das Gesicht, das sie sich selbst als Maske aufsetzt. Während jedoch das Mädchen in ihrem Zimmer sitzt und Gullivers Reisen liest, kommmt die Mutter zu ihr und berichtet: „Wir hatten uns gerade zu Tisch gesetzt, als dieses Vieh, das auf deinem Platz saß, aufstand und schrie: ,Aha, ich rieche wohl etwas zu streng, was? Ich esse sowieso keinen Kuchen‘, woraufhin es sich sein Gesicht abriß und es auffraß. Mit einem großen Sprung verschwand es daraufhin aus dem Fenster.“ (Übersetzung: U.R.) Mit diesen Worten der Mutter endet die Geschichte, bricht mitten in der aufgebauten Spannung ab, ohne weitere Pointe, ähnlich abrupt, grotesk und gleichzeitig nüchtern wie ein englischer Nurseryrhyme.
Der Kannibalismus der vieldeutigen Konstruktion Mutter/Hyäne/ Mädchen bei Leonora Carrington spiegelt sich auch in der Anprobe und Die Patin des Stierkämpfers von Paula Rego. Die Initiation des Mädchens wie des Stierkämpfers gleicht einer Opferung: der Gesellschaft, ihren Regeln. „Den anderen“ zum Fraße vorgeworfen, endet die verspielt-bedrückende Kindheit, in der es immer auch noch nach etwas anderem gerochen hat, in einer plötzlichen, unbegreiflichen Bedeutung der eigenen Person.
Carringtons Bilder, die nach ihrem Nervenzusammenbruch und Aufenthalt in der spanischen Psychiatrie, nach Notheirat und Flucht zuerst in New York und später in Mexiko entstehen, enthalten noch jahrelang Phantasien, die sich vom Unheimlichen und der Angst davor nicht freimachen können. Langsam jedoch fließen andere Elemente ein; Fabelwesen entstehen, deren Aura weniger Angst als Neugier weckt und schließlich Vertrauen einflößt. Dunkles und Helles, Menschen und Tiere, Himmel und Hölle nähern sich einander an und legen sich auf der Leinwand zum Rätsel aus, dessen Lösung Erlösung verspricht. Einige der durchaus formstrengen Bilder Anfang der fünfziger Jahr strömen den spirituellen Ernst und die poetische Leichtigkeit der Bilder von Paul Klee aus. Den quälenden Beziehungswahn ihrer in Frankreich und Spanien erlebten Psychose, 1943 das erste Mal von ihr niedergeschrieben, rearrangiert Leonora Carrington nun in eine von Hieronymus Bosch inspirierte Kosmologie, ein allesumfassendes Beziehungsgeflecht, in dem das Ich nicht zersplittert, sondern potentiell aufgehoben ist. Boschs Bilder, besonders wohl den Garten der Lüste, hatte sie in Madrid im Prado gesehen, eines der wenigen Dinge, an die sie sich aus ihrer Zeit des Außer-sich-Seins später erinnern kann. Seine Aufhebung der Hierarchien zwischen Menschen, Tieren und Dingen macht am Ende, so scheint es, auch ihr einen Blick auf Welt und Ich möglich, der weder zu psychotischer Auflösung noch in neurotisch verkeilte Stagnation und Anpassung führen muß.
„Alle Geschichten sind wahr“, läßt Leonora Carrington eine Gestalt in ihrer phantastischen Erzählung Die Steintür sagen, „fang an“ (zu erzählen). Und ähnlich der Auffassung Regos, die den Betrachtern ihrer Bilder erlaubt, die eigene Geschichte zu schreiben, kreist bei Carrington die Handlung ihrer Texte immer wieder um den Drang einer Person — oder eines Tieres —, endlich einmal jemanden zu finden, dem man seine Geschichte erzählen kann.
Was aber wird aus ihrer eigenen Geschichte, der Geschichte ihres weiblichen Körpers zumal, dessen Vieldeutigkeit in ihrem Selbstporträt zwischen Pferd und Hyäne geortet war?
Große Göttin
Meret Oppenheim, für viele wohl die surrealistische Künstlerin par excellence, hat 1984 in einem Interview (mit Robert J. Belton) gesagt: „Das Problem der Frau ist nicht ihre Sexualität, sondern ihre Beziehung zur Gesellschaft.“ Ihr Kommentar zielte dabei auf eine Unterscheidung der Weiblichkeitskonstruktionen in den Schriften von Freud und Jung, und sie selbst bekannte sich hiermit zur jungianischen Auffassung von Psyche und Weiblichkeit. Wie Meret Oppenheim haben sich auch Rego und Carrington einer jungianischen Psychoanalyse unterzogen.
Vielleicht muß man zurückgehen auf die den Frauen im surrealistischen Kosmos zugedachte Rolle, um zu begreifen, warum diese Künstlerinnen sich mit zunehmendem Alter einer Theorie — und Praxis — zuwandten, die, um es etwas verkürzt zu sagen, der Welt mehr Weiblichkeit zur Heilung verschreibt und den Frauen eine persönliche Androgynität zuerkennt.
Den Surrealisten um André Breton war „die Frau“ als Verkörperung des Schönen und Wunderbaren willkommen, die Kindfrau ihr Ideal — Medium von Wunsch und Wunscherfüllung. Das Prinzip des unzensierten Zuganges zum eigenen Eros und seiner Darstellung, besonders durch die Methoden des automatischen Schreibens und der Collage, führte in dieser von Männern dominierten ästhetischen Bewegung zu extremen Deformations- und Zerstückelungsphantasien in ihrer Kunst, deren Objekt immer wieder der weibliche Körper war. Zu diesem beunruhigenden Befund kam hinzu, daß die Frauen zwar als Muse, Medium und Köchin fungieren durften, jedoch in ihrer unabhängigen künstlerischen Arbeit aus der streng hierarchisch funktionierenden Männergruppe nur wenig Unterstützung erfuhren. (Die seit etwa 1985 zunehmend publizierten Studien zum Thema Surrealismus und Frauen, besonders von Whitney Chadwick, haben sich ausführlich — und kontrovers! — mit dieser Problematik und den Arbeiten der surrealistischen Schriftstellerinnen und Malerinnen beschäftigt.)
In diesem Zusammenhang also ist vielleicht die „Große Göttin“, das „weibliche Prinzip“ und der Rückgriff auf mythische Größe des Weiblichen auch als Flucht der Frauen vor diesem Körperbild und als Rache an ihm zu verstehen. Daß sich jetzt die Arbeiten von Leonora Carrington, am etablierten Kunstbetrieb vorbei, als enorm populär erweisen, ist dabei wohl ebenso heikel wie vielsagend: Tatsächlich hat die Carrington-Retrospektive alle Besucherrekorde der Serpentine Gallery gebrochen.
Hasenherz
Alle zu Gehör gebrachten Meinungen und der Erfolg müssen sich jedoch letztlich immer wieder an den Bildern selbst messen lassen. Wer nur eine abstrakte, nicht-figurative Kunst gelten läßt, wird die Bilder beider Künstlerinnen als altmodische Erzählprosa selbstsicher verwerfen können. Mir aber sind, wenn ich die Arbeiten von Paula Rego und Leonora Carrington ohne solche Zensur auf mich wirken lasse, sowohl ihre Flucht- als auch ihre Rachewünsche noch zu nahe für solche Selbstgewißheit. Plaziere ich mich, meinen „eigenen Text“, damit zwischen Rego und Carrington, einem virilen Auftrumpfen in der Tagwelt und einer Flucht in die Welt des Spirituellen?
Das ernsthafte Mädchen mit dem großen Kopf, eine Zeichenstudie Regos für das Gemälde Zeit — Vergangenheit und Gegenwart, ist mir dann in meiner Hasenherzigkeit das liebste. Eifrig und in die eigenen Gedanken versunken, beugt sich das Mädchen über seine Zeichnung. Auf dem fertigen Gemälde legt die Kleine den Arm auf den Zeichentisch und läßt ihr Modell, einen alten Mann, nicht sehen, was sie macht: das Bild einer schüchternen und dennoch energischen Suche nach der eigenen Wahrnehmung, ihrer Geschichte und Möglichkeit.
Leonora Carrington: Paintings, drawings and sculptures 1940-1990. Serpentine Gallery, London (noch bis 26.Januar), danach Harris Museum, Preston (1.Februar bis 31.März), danach Arnolfini Gallery, Bristol (11.April bis 10.Mai). Katalog (hrsg. von Andrea Schlieker) 12,95 Pfund.
Auf deutsch erschienen sind:
Das Hörrohr. Roman, Bibliothek Suhrkamp, 24,80DM.
Unten. Erzählungen, Bibliothek Suhrkamp, 14,80DM.
Die ovale Dame. Magische Erzählungen. (hrsg. von Becker), Ullstein-TB, 6,80DM (vergriffen).
Paula Rego: Tales from the National Gallery. Noch bis 29.Februar, Katalog 5,95 Pfund. Weiterhin greifbar sind der Katalog Paula Rego , Serpentine Gallery (15.Oktober bis 20.November 1988, 12Pfund) sowie Nursery Rhymes (The Southbank Centre, 1990, 3,95Pfund) mit Regos Radierungen und einem Text von John McEwen.
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