Das Fatum ist weiblich

■ Eine Hauptmann-Ausgrabung in Kassel

Gerhart Hauptmann wäre vermutlich die Feder aus der Hand gefallen, hätte er geahnt, daß sich jemals eine Frau daran wagen würde, sein 1905/1906 entstandenes Künstlerdrama Gabriel Schillings Flucht zu inszenieren. Denn das Stück erzählt, kurz gesagt, davon, wie zwei Frauen aus eigensüchtigen Motiven einem Mann, den sie zu lieben vorgeben, die künstlerische Potenz abjagen und ihn schließlich in den Tod treiben, einen romantisch umflorten Freitod im Meer. Ein Künstlerdrama à la Hauptmann, das ist vor allem eine Männerdrama; im Zentrum stehen antithetisch der Könner und der Versager, der Pragmatiker und der Träumer: der renommierte Bildhauer Mäurer und sein Freund, der erfolglose Maler Schilling, beide 37 Jahre alt, also eigentlich erst am Anfang ihrer künstlerischen Karriere.

Das Stück ist, unter dem Aspekt des Geschlechterkampfs betrachtet, hemmungslos parteiisch, und eine Frau als Regisseurin ist zunächst einmal falsche Partei. Wegen seiner einseitigen Sicht der Dinge ist das Drama so gut wie vergessen, obgleich es zweifellos — auf beiden Seiten der Geschlechtergrenze — über wunderbare Rollen verfügt. Kann man, soll man das heute ausgraben?

Adelheid Müther hat in Kassel die Herausforderung angenommen — und viel gewonnen, nämlich ein neues, spielbares, bewegendes Stück. Einen Text, der seine Parteilichkeit nicht über das Jahrhundert hat hinwegretten können und darauf auch nicht angewiesen ist, weil er zwischen seinen Zeilen Risse und Widersprüche aufhebt, die die Regisseurin gesehen und inszeniert hat. Es gab kaum Lacher in Kassel, auch nicht auf Kosten der misogynen Verquastheiten des Textes. Müther verfährt nicht nur ideologiekritisch; sie bürstet das Stück nicht ultrafeministisch gegen den Strich, vertraut vielmehr seiner soliden Dramaturgie, läßt sich auch auf seinen raunenden Mystizismus ein, den die breitformatigen, farbintensiven Bühnenbilder Kathrin Keglers sogar noch unterstützen. Die Präsenz der Figuren ist es, die die Aufführung spannend macht.

Zum Beispiel Mäurer (Volker Weidlich): seine Energie verpufft meist ins Leere, läßt ihn ständig um sich selbst kreisen. Ein Panzer aus Eitelkeit schützt ihn. Wenn seine Freundin Lucie ihn leidenschaftlich küssen will, windet er sich steif heraus. Es geht nicht um Körperliches, er ist stets bis unters Kinn zugeknöpft. Auch beim Dünenspaziergang. Er hat Erfolg; nicht nur bei Frauen, auch als Künstler. Seine Antipathie gegen Schillings Geliebte Hanna Elias verdankt sich ihrer Gleichgültigkeit gegen ihn, also verletzter Eitelkeit. Das sieht man an seiner Reaktion auf Hannas Freundin, Fräulein Majakin, ein blondbezopftes Engelchen, ganz nach Mäurers Geschmack, weil es ihn bewundert.

Hanna, das fatale Weib, ist die Paraderolle der Aufführung (Susanne Häusler). Ihr Auftritt im bescheidenen Gasthaus erfolgt in perfektem Outfit, samt Hut und Schirmchen, aber es dauert nicht lang, bis sie sich so ziemlich entkleidet hat. Ihr Temperament ist jäh, impulsiv, fordernd; sie spricht schnell, atemlos. Der arme Schilling (Joachim Berger) hat keine Chance gegen sie, mag er auch zum Schutz die Beine auf den Tisch legen. Sein Entzücken bei ihrem unverhofften Anblick hat ihn längst verraten. Von dieser begnadeten Theatralikerin kommt er nicht los, will er nicht los. Von seiner verhärmten Ehefrau Eveline eh nicht.

Der Zusammenprall der beiden Furien macht den ohnehin Kranken gänzlich elend. Weiblicher Egoismus tobt sich aus. Hanna streckt Eveline demonstrativ den Hintern entgegen, nimmt dann die körperlich Unterlegene, hilflos Zappelnde auf den Arm, läßt sie kreisen wie ein Kind. Später darf auch Hanna ihre Schwäche, ihre Verletztheit zeigen.

Der Anblick dieser Szene macht Schilling buchstäblich wahnsinnig. Nicht die Frauen sind sein Problem, sondern die Tatsache, daß er als Künstler keinen Erfolg hat. Doch Hauptmann läßt das Verhältnis von Ursache und Wirkung bewußt im Zwielicht der Suggestion. Schilling ist tatsächlich die Spielernatur, für die Mäurer sich bloß hält. Er setzt leichten Herzens alles aufs Spiel, weil er sich sowieso nicht zutraut, zu gewinnen. Von Anfang an erscheint er als der leibhaftige Tod, bleich, hager, mit wirrem Haar. Das Ende überrascht nicht. Adelheid Müther beendet ihre Inszenierung nicht mit dem bleiernen Leichenzug, der dem Autor vorschwebte, sondern mit dem pittoresken Bild einer übermütigen, besoffenen Ausflugsgesellschaft. Und die Möwen kreischen. Martin Krumbholz

Gerhard Hauptmann: Gabriel Schillings Flucht. Regie: Adelheid Müther; Bühnenbild: Kathrin Kegler. Mit Joachim Berger, Volker Weidlich, Eva-Maria Keller, Susanne Häusler, Maja Nielsen. Staatstheater Kassel.

Nächste Aufführungen: 23.Januar; 5., 13., 15.Februar.