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Sehen auf Befehl

■ „Der Frauenleib als öffentlicher Ort“ — Barbara Dudens neues Buch

Eine 100.000köpfige Menschenmenge versammelte sich im April 1990 in Washington zu einer Anti-Abtreibungsdemonstration. Über den Leuten schwebte ein Ballon, in dem ein Wesen mit riesigem Kopf und winzigen Gliedmaßen lag. Es sollte einen Embryo darstellen. Ein halbes Jahr später veröffentlichte der STERN die neuesten Bilder des schwedischen Fotografen Lennart Nilsson. Seit 30 Jahren fotografiert Nilsson menschliche Embryos und Föten. Nun hatte er den Höhepunkt seines Lebenswerkes erreicht: Er hatte Ei- und Samenzellen im Augenblick der Verschmelzung abgelichtet.

Die Embryo-Puppe über der Menschenmenge und die Nilsson-Bilder zeigen dasselbe: Die Schwangerschaft, die bislang ein individuelles Erleben der einzelnen Frau war, ist an die Öffentlichkeit gezerrt. Damit wird auch der Körper der Schwangeren entblößt und zur allgemeinen Kommentierung freigegeben.

Die Geschichte dieser „Sichtbarmachung“ erzählt Barbara Duden in ihrem neuen Buch. Von den Zeichnungen Leonardo da Vincis, der dutzende von Leichen zerlegen ließ und skizzierte, was er sah, dabei allerdings nie einen Fötus zu sehen bekam und deshalb bei dessen Wiedergabe auf Spekulationen angewiesen war. Oder von dem Kasseler Anatom Samuel Thomas Sömering, dem es um 1800 gelang, sich eine Fehlgeburt zu besorgen, ein winziges Ding mit einem Kopf, der größer zu sein schien als der Leib, woraus der Anatom schloß, der Fötus sei „wildwüchsig und verfault“.

Trotz dieser Versuche, sich ein Bild zu machen, war bis in die Neuzeit das Zeugnis der Frau alleiniger Maßstab für das Vorliegen einer Schwangerschaft. Eine Frau galt als „wirklich schwanger“, wenn sich der Fötus in ihrem Körper bewegte. Erst im 19. Jahrhundert wähnten sich die (ausschließlich männlichen) Ärtze stark genug, den Wahrnehmungen der Frauen ihre eigene Wahrheit entgegenzusetzen. Aufgrund eigener Untersuchungen stellten sie Bewegungen des Fötus fest. Zur selben Zeit stellten Juristen und Politiker die Abtreibung vor der ersten Fötusbewegung unter Strafe.

Die Sichtbarmachung der Leibesfrucht heute ist nur möglich dank modernster Techniken. Das Verschmelzen von Ei- und Samenzelle hat der Fotograf nicht im Körper einer Frau abgelichtet, sondern im Labor, im Reagenzglas der Reproduktionsmediziner. Als „Körperhistorikerin“ untersucht Barbara Duden, wie sich das Gefühl der schwangeren Frau für ihren Körper verändert hat. Sie schildert den weiten Weg von der „hageren Schneidersfrau“, die am 18. April 1724 den Eisenacher Hof- und Leibmedikus Johann Storch wegen der „Verstopfung ihrer Monatszeit“ aufsucht. „Stockung und Fluß“ in ihrem Körper beschreiben Storchs Patientinnen — und sie werden von ihrem Arzt ernst genommen. Heute dagegen interpretieren — meist männliche — Ärzte, was sie im Inneren der Frau sehen, und Frauen gehen mit Fotos nach Hause, auf denen ein paar Schatten beweisen, daß sie schwanger sind.

„Sehen auf Befehl“, wie Barbara Duden den Glauben an die technisch vermittelten Abbildungen nennt, hat das Körpergefühl vielfach abgelöst. Bei ihren systemtheoretisch orientierten Studentinnen in den USA hat Duden festgestellt, daß es ihnen offenbar nichts ausmacht, sich selbst als System wahrzunehmen. Würden sie schwanger, wären sie in der Logik das systemische Umfeld für ein sich in ihnen einnistendes Immunsystem. Gaby Mayr

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