: Neudeutsches Europa
■ Die deutsche Industrie will verstanden werden
Der Herr ist blond, blauäugig und großgewachsen. Er sagt, Deutsch müsse endlich von dem Makel einer drittklassigen Sprache befreit werden. Diese Behandlung zieme sich nicht für ein Idiom, das von 100 Millionen Menschen gesprochen werde — Österreich und Schweiz bereits mit eingerechnet. Es ginge auch nicht an, daß Deutschland und insbesondere die deutsche Industrie ständig benachteiligt werde, weil wichtige Dokumente in den EG-Institutionen zunächst nur auf Französisch und Englisch vorlägen und erst später ins Deutsche übersetzt würden.
Dies, so doziert der Repräsentant des Bundesverbandes der Deutschen Industrie in Brüssel beim Stehempfang, betreffe vor allem Mittel- und Kleinunternehmer, die nicht über vergleichbare Übersetzungsmöglichkeiten oder vielsprachige Führungskräfte verfügten wie die deutsche Großindustrie.
Auf diesen Mißstand werde der deutsche Kanzler schon seit längerem regelmäßig hingewiesen. Ebenso regelmäßig schicke Kohl dann einen Beschwerdebrief an den Präsidenten der EG-Kommission, Jacques Delors. Bislang hatte es sich dabei um eine Art Ritual zur Beruhigung der ewig Deutschen gehandelt, das die französisch geführte Eurokratie nicht weiter tangierte. Schließlich hat die Zwölfergemeinschaft schon jetzt den größten Übersetzungsdienst der Welt, um die Verständigung in den neun Amtssprachen zu gewährleisten. Außerdem müßte die Gleichberechtigung dann ja auch für die anderen sechs EG-Sprachen gelten.
Dies sei jedoch aus praktischen Gründen unmöglich. Ließen sich die deutschen Nörgler bislang von solchen Argumenten hinhalten, so ändert sich nach deutscher Vereinigung und deutscher Anerkennung (der ehemaligen jugoslawischen Republiken) der deutsche Ton: Aus der Forderung wird — auch dank ostdeutscher Unterstützung immer unüberhörbarer — Befehl. Und mit Befehlsverweigerung tun sich selbst die Eurokraten schwer.
Fazit: Die erste Phase des modernen Europas — unter frankophilem Einfluß, aber dennoch multinational und vielsprachig — neigt sich ihrem Ende zu. Statt dessen beginnt nun die teutonische Periode. Stichtag dafür war der letzte EG-Gipfel in Maastricht. Dort wurde der Grundstein gelegt für ein wirtschaftliches und politisches EG-Europa nach deutschem Vorbild — ein föderaler Bundesstaat mit unabhängiger Zentralbank.
Um die europäische Welt allerdings endgültig am deutschen Wesen genesen lassen zu können, fehlen noch mindestens zwei wichtige Elemente: Deutsch als dominante Sprache und Bonn als europäische Hauptstadt.
Der Dreischritt Brüssel-Bonn-Berlin, letzten Frühling von Genscher-Leuten als Scherz in Umlauf gebracht und seitdem gerne als Drohung gegen Brüsseler Aufmüpfigkeit benutzt, gewinnt dieser Tage in deutschen Kreisen an Sogkraft. Dies war kürzlich auch dem neudeutschen Kampforgan 'FAZ‘ zu entnehmen, das seit dem Krieg in Jugoslawien zu ungeahnter Form aufläuft.
bull
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