SOMNAMBOULEVARD — TRAUMPOLITIK Von Micky Remann

Politiker posaunen in letzter Zeit viel herum, daß sie sich das aktuelle Geschehen „nicht im Traum hätten vorstellen können“. Ist das nicht eine ehrenrührige Herabwürdigung des somnambulen Potentials, fragst Du? Gewiß, aber sie löst hier eher Heiterkeit als Zorn aus. Erstens wegen des Versuchs, die Beschränktheit des politischen Tageskalküls dem Traumbereich in die Schuhe zu schieben, zweitens, weil die Rechnung in keiner Weise aufgeht.

Du fragst, ob die Politiker deshalb so blauäugig sind, weil sie nachts nie bei uns reinschauen? Oh doch, sie tun es, aber sie tapern über den Somnamboulevard wie Touristen durch die Slums von Kalkutta, denn was ihnen hier widerfährt, ist eben keine Bundestagsrede im rosa Weichzeichner, dem ungefähren Ideal dessen, was sie unter politischen Träumen verstehen, sondern ein kaleidoskopisches Kauderwelsch, das ihnen schier das Artischockenherz bricht.

Laß Dir also nichts vormachen, auch Helmut Kohl und Jutta Ditfurth fahren jede Nacht mit dem Face-Lift ab ins Unterbewußte, und auch ihr Traum ist keine flurbereinigte Alberei, kein mentales Naherholungsgebiet und keine Weide für die Schafe des Ego Politicus, blökend und doof, sondern ein tückisches Seelengehölz, aus dem keine Jungfrau unberührt entkommt. Manch böses Erwachen findet mitten im Traum statt, denn vor schmuddeligen Dämonen und stinkigen Elfen, die einen zu verwunschenen Parties schleppen, ist jede Polit-Rhetorik machtlos. Folge: Unsere antisomnambulen Fundamentalisten erleben die Weltpolitik auf der Standspur. Das können alle WählerInnen selbst nachprüfen, und auch daß es eine Alternative gibt: luzides Feedback zwischen Traum und Tagespolitik. Die GUS existierte längst auf dem Somnamboulevard — und nur da —, als es die UdSSR noch gab, auch wenn diese Einsicht bei unseren Polit-Brahmanen als wenig opportun gilt. Lieber würden sie sich gegen nächtlichen Realitätseinbruch versichern lassen wie gegen Diebstahl und Wasserschaden, eher bemühen sie Massenpropaganda und Gehirnamputation, als anzuerkennen, daß ihr Traum nicht die verirrte Scham eines anderen, sondern ihr ureigenes Füllhorn ist. Statt dessen und weil sie ihre Identität daran gekettet haben, erklären sie ihre in „realpolitisch“ und „irrelevant“ geteilte Psyche zum Dogma.

Ein Bullshit, der offenbart, daß die Politiker den Trend zur Wiedervereinigung von Tag und Nacht, Chaos und Verstand nicht begriffen und somit auch verschlafen haben, daß die beste Einstimmung auf die Weltentwicklung just im kaleidoskopischen Träumen liegt, weil hier die Software-Bibliothek für die Politik des Undenkbaren zu finden ist — nachweislich die einzig realistische im 20. Jahrhundert.

Wo das Stoß- und Stasi-Gebet „Ich wußte von nichts!“ niemanden aus der Verantwortung entläßt, da kann die stereotype Leier: „Ich hab's mir im Traum nicht vorstellen können!“ auch keine Ausrede für somnambule Impotenz sein.