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Suggestive Körpergesten

■ Thomas Florschuetz in den Galerien Sonne und Vier

Entdeckungen sind eine Frage der Perspektive. In der Isolation, unter extremer Vergrößerung, nehmen die Dinge ungeahnte Dimensionen an. Vertrautes entfaltet Eigenleben. In einer Doppelausstellung der Galerien Sonne und Vier zeigt der Berliner Künstler Thomas Florschuetz fotografische Arbeiten, die dem konventionellen Sehen nachhaltige Irritationen entgegensetzen.

Florschuetz ist sein eigenes Modell. Er präsentiert Nahaufnahmen menschlicher Körperteile, die die realistischen Motive in abstrakte Formeln verwandeln. Bilder von Fingern, Unterarmen oder Augen erhalten eine suggestive Kraft, die Assoziationen freien Lauf läßt. Augenpaare werden zu düsteren, geheimnisvollen Organismen fremder Lebewesen. Die Großaufnahme eines Fingers strahlt durch seine transparent schillernde Haut und das pralle Körpervolumen bizarre Erotik aus. Ein unscharf im Halbdunkel aufgenommener Mund gerät zur expressiven Seelenlandschaft. Der Körper wird zum künstlerischen Gestaltungsmittel.

Florschuetz inszeniert den Verlust der Gewißheit vor dem Bild. Zwar sind die Ausschnitte und Körperteile identifizierbar, aber zugleich so offenkundig auf einer anderen, von der Abbildhaftigkeit abweichenden Ebene angesiedelt, daß man nach einem kurzen Moment des Wiedererkennens in Unsicherheit zurückfällt. Wirkliches wird irreal. Der Künstler verwandelt Gliedmaßen in formale Gesten. Er vervielfältigt die großformatigen Fotografien und hängt sie in einer geometrischen, symbolhaften Ordnung an die Wand.

Die Arbeit Ohne Titel, Kreuz I besteht aus vier in Kreuzform angebrachten Aufnahmen einer Faust mit verschiedenen Fingerstellungen vor rotem Hintergrund. Gesteigert wird die plastische Illusion durch die Beleuchtung, die nur die Außenseiten in hellem Licht erfaßt und den Handrücken zu einem dunklen Streifen deformiert. Die reine Form tritt in den Vordergrund, und die Anordnung der Abzüge tut ein übriges, um dem Bildgegenstand zu einer formal ästhetischen Existenz ohne festgelegte, manipulierende Bedeutung zu verhelfen.

In der Arbeit Pink Square wird die Behandlung der Gegenständlichkeit besonders deutlich. Die zwei mal zwei Meter große Wandinstallation, die ebenfalls aus zu einem gleichschenkligen Kreuz zusammengestellten Bildern einer Faust besteht, trägt in ihrem Zentrum das namengebende, rosafarbene Quadrat. Die abstrakte, rein äußerliche Erscheinung der Farbfläche steht gleichberechtigt neben der figürlichen Darstellung und überträgt ihre konkrete Präsenz auf das realistische Motiv.

Das Prinzip, alltägliche Formen durch Nahaufnahmen zu verfremden und dadurch neu wahrnehmbar zu machen, wurde bereits vor langer Zeit entdeckt. Seit Anfang des Jahrhunderts experimentieren Fotografen immer wieder mit der Makrolinse, und auch die Möglichkeiten, den menschlichen Körper als Ausdrucksmittel einer unbekannten Symbolsprache zu benutzen, sind seit den in den siebziger Jahren entstandenen Selbstporträts Jürgen Klaukes ausgelotet. Dennoch haben die Arbeiten von Thomas Florschuetz etwas Eigenes, Unvergleichliches. Vielleicht ist es der einfarbig rote oder mystisch orange beleuchtete Hintergrund der Fotografien, vielleicht ihre Anordnung in Dreiecken, Quadraten oder Kreuzen, die den zweidimensionalen Bildern eine paradoxe Körperlichkeit verleiht. Die Abbildungen der menschlichen Gliedmaßen erlangen abstrakte, monumentale Plastizität. Florschuetz' mikroskopischer Blick und sein autonomer Gestaltungswille erschließen neue, eigene Welten. Ulrich Clewing

Bis 14. März in der Galerie Sonne, Kantstraße 138, Charlottenburg, Di.-Fr. 11-13 und 15.-.18.30, Sa. 11-14 Uhr; und in der Galerie Vier, Schwedter Straße 263, HH, 2. Etage, Prenzlauer Berg, Di.-Fr. 14-19, Sa. 11-14 Uhr.

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