: Sisyphos, übel zugerichtet
■ Zu Leonard Gardners Roman „Fat City“
Wenn die Amerikaner „Fat City“ sagen, dann meinen sie das Land, wo Milch und Honig fließen. In „Fat City“ ist der ewige Traum vom großen Glück in Erfüllung gegangen und das Leben ein immerwährendes Vergnügen. „Fat City“ liegt hundert Kilometer östlich von San Francisco und heißt in Wirklichkeit Stockton, eine verwahrloste Kleinstadt im kalifornischen Hinterland. Es ist das Land, wo Blut, Schweiß und Tränen fließen, ein Ort der Verdammnis und der Schauplatz eines großen Romans: Fat City von Leonard Gardner.
Die Titelgebung des Romans ist so zynisch wie sein Inhalt authentisch. Fat City (1969 erstmals publiziert, jetzt neu aufgelegt und ins Deutsche übersetzt) beschreibt den kruden Alltag in Stockton und handelt vom Boxen, was auf dasselbe hinausläuft: Wer in Stockton überleben will, muß kämpfen, austeilen und einstecken, vor allem aber das Verlieren lernen, denn hier ist jeder Sieg nur eine Atempause und der nächste Tiefschlag die Regel. Stockton liegt auf der kalifornischen Schattenseite und der Beach mit Parties unter Palmen am anderen Ende der Welt. Die Woche beginnt hier nicht auf dem Surfbrett, sondern in den sonnendurchglühten Obst- und Zwiebelplantagen, wo die Leute aus der Stadt sich für einen Hungerlohn den Rücken verbiegen und Staub fressen. Arme Schlucker sind sie alle, die Tagelöhner und Saisonarbeiter, die illegal eingewanderten Mexikaner, die Schwarzen und die Weißen. Nach Feierabend in Downtown lehnen sie an Autos und Parkuhren oder trinken sich durch die Bars; die Arbeit auf den Feldern macht durstig, und die Hitze, die auch nachts noch in den Straßen steht, zerrt mächtig an den Nerven: Schlägereien sind an der Tagesordnung und Prostitution bleibt das einzige Geschäft, das wirklich lohnt. Wer hier lebt, stirbt an Hoffnungslosigkeit oder rettet sich in die Illusion, daß man das eigene Glück selbst in die Hand nehmen könne. Nirgends erhalten solche Illusionen mehr Auftrieb als im Box-Gymnasium, wo die jungen Burschen, die meisten bereits mit einschlägiger Knasterfahrung, das Abc der Pugilistik lernen und sich auf ihren ersten Profi-Kampf vorbereiten...
Leonard Gardner weiß, wovon er schreibt. 1933 wurde er in Stockton geboren, jobbte als Parkwächter, Sportjournalist und Tankwart. Nach einer kurzen, erfolglosen Karriere als Boxer wechselte er mit 29 Jahren die Disziplin und begann zu schreiben. „Schreiben“, das wußte schon Hemingway, „ist das Härteste, was es gibt.“ Und manchmal ist es noch fürchterlicher als Boxen. Als Fat City vor 22 Jahren erschien, schlug das Buch wie eine Bombe ein und machte seinen Autor über Nacht berühmt. Doch es blieb der bislang einzige Roman, den Gardner veröffentlichen konnte, und seit seinem Sensationserfolg scheint sich die bitterste aller Boxer-Weisheiten auch für den Schriftsteller zu bewahrheiten: „They never come back.“
Billy Tully, eine der beiden Hauptfiguren des Romans, ist noch keine 30 und schon am Ende. In den fünfziger Jahren hatte er davon geträumt, ein großer Box-Champion zu werden. Er hatte ein paar gute Kämpfe, kam rasch zu Geld, genoß ein bißchen Ruhm, mehr aber noch das öffentliche Leben an der Seite seiner hübschen, jungen Braut. Jetzt logiert er in lausigen Absteigen und schüttet seine Misere mit Whiskey zu: Erst ist ihm die Frau davongelaufen, dann hat er seine „Reflexe verloren“ und nun auch noch seinen Job als Pfirsichpflücker. Geblieben sind ihm nur die Träume, die Sehnsucht nach einem furiosen Comeback, denn ein Mann seines Schlages weiß um die Kombinatorik des Erfolgs: „Krieg ich den Kampf, krieg ich das Geld. Krieg ich das Geld, krieg ich die Frau.“ Als er den Kampf endlich kriegt und sogar gewinnt, ist er längst verloren. Am nächsten Morgen hängt er wieder an der Flasche...
Ernie Munger ist zehn Jahre jünger als Billy und hat seinen ersten Profi-Kampf noch vor sich. Nachts arbeitet er auf der Tankstelle, am Tage läßt er im Gym die Punchingbälle rattern. Während er sich seine Sparringpartner mühelos vom Leibe halten kann, liegt er mit seinem schwangeren Sweetheart bald im Ehe-Clinch; fortan konkurriert der Traum von Aufstieg und Glück mit der realistischen wie beklemmenden Vorstellung, „daß nach der Heirat der Tod das nächste größere Ereignis sein würde“. Nach knapp 200 Seiten wissen wir, daß die Schinderei am Sandsack Ernie ein paar Dollar und eine zerdellte Nase eingebracht hat, auf seiner Seele indes, und das wiegt schlimmer, schon der dunkle Schatten seines Scheiterns liegt. „Du kämpfst“, sagt Billy in einem seiner lichteren Momente, „bis du nicht mehr kannst, und was hast du am Ende davon?“ Die Frage beantwortet sich von selbst, weil in Stockton auch ein Sieg zuletzt nicht mehr wert ist als der Spuckeimer in der Ringecke.
Leonard Gardner hat die poetische Kraft, die Welt der Boxer, das Martyrium ihres Trainings, die johlenden und pfeifenden Arenen, die gnadenlos geführten Faustduelle im Ring, das Sich-hoch-Boxen und wieder Auf-die-Matte-geschickt-werden mit einer Eindringlichkeit und Präzision zu schildern, daß einem beim Lesen der Schweiß ausbricht. Nirgends jedoch sehen wir einen Helden mit hochgereckten Fäusten, stattdessen führt uns der Autor hinab in die Kabinen der Geschlagenen: „Blut rann über seine Lippen, als er zu einem Spiegel ging. Seine Nase sah aus wie eine Kochwurst kurz vor dem Platzen. Er ging in den Duschraum und stand, das pulsierende Klopfen des gesplitterten Knochens spürend, mit geschlossenen Augen unter dem Wasserstrahl.“ In Stockton läßt der brutalste aller Rechts- Linksausleger, das Leben selbst, seinem um Anerkennung und Erfolg kämpfenden Herausforderer nicht die Spur einer Chance. Ja, er läßt ihm nicht einmal mehr seine Würde. In Stockton haben wir uns Sisyphos als einen übel zugerichteten Menschen vorzustellen...
Selten ist in der amerikanischen Literatur die Lebensphilosophie vom Glück des Tüchtigen so schonungslos demontiert worden wie in Fat City. Vergleichbares haben vielleicht Nelson Algren oder Jim Thompson in ihren besten Werken geliefert. Gemessen an den amerikanischen Realiäten bleibt Fat City ein Roman von nachgerade klassischer Aktualität. Michael Kohtes
Leonard Gardner: Fat City. Roman, aus dem Amerikanischen von Ursula Locke-Groß und Michael Naumann, Rowohlt Verlag, 198 Seiten, gebunden, 29,80DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen