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Böse Taten ohne Menschen

■ Günther Anders' Schuldphilosophie

[...] Die Provokation [von Anders' Texten] liegt darin, daß eineKontinuität von Auschwitz über Hiroshima zur rezenten Industriegesellschaft postuliert wird, die ihr Fundament in der Tendenz einer universellen Maschinisierung hat: im Wortsinn. „Die Welt wird zur Maschine“, heißt es inWir Eichmannsöhne, und gemeint ist damit der „technisch-totalitäre Zustand, dem wir entgegentreiben“. Tendenziell wird der Mensch zum Anhängsel der von ihm geschaffenen Maschinerie. An dem Tag, so Anders, an dem sich das „chiliastische Reich des technischen Totalitarismus“ erfüllt, „werden wir dann nur noch als Maschinenstücke dasein oder als Stücke des für die Maschine erforderlichen Materials: als Menschen werden wir dann also liquidiert sein.“ Und genau in dieser Hinsicht, in der totalen und reibungslosen Funktionalisierung des Menschen, in seiner Eingliederung in ein System von Zwängen, das er nicht einmal als Zwang imstande ist zu begreifen, weil es keinen Punkt mehr zuläßt, von dem es anders gesehen werden könnte, in der Degradierung des Menschen zu einem Material, zu Rohstoff, liegt die „Ähnichkeit dieses drohenden technisch-totalitären Reiches mit dem monströsen gestrigen“. Und genau in diesem Sinne ist das Eichmann-Problem für Anders kein gestriges. Die eigentliche Gefahr, so könnte man vielleicht überspitzt formulieren, liegt nicht in der rechtsradikalen Nostalgie einiger politischer Gruppen; sie liegt auch nicht in Phänomenen wie einer zunehmenden Ausländerfeindlichkeit oder dem Wiederaufleben des Antisemitismus. All dies aber mag ein Symptom dafür sein, daß „wir alle den Gedanken an das zu Große und an unsere Unfreiheit gegenüber dem zu Großen beiseiteschieben“. In unserer ganz alltäglichen, aufgeklärten Blindheit gegenüber der immanenten Tendenz zur Selbstzerstörung der Lebensform, die wir für eine Errungenschaft halten, liegt die Gefahr. Die Gespenster des 19.Jahrhunderts, die jetzt wiederzukehren scheinen, sind für die Rechte und die Linke auch ein willkommener Vorwand für jene Verdrängungsarbeit.

Mit Technik geht in der Tat alles leichter. Böse Taten, so Anders, sind nicht mehr die Taten böser Menschen, sondern Taten ohne Menschen — und sie werden deshalb auch nicht moralisch beurteilt. Je indirekter die Tat, desto schuldloser der Täter. Selbst in den Niederungen des Alltags nistet das Monströse sich ein — so gezähmt, daß es schlicht als persönliches Versagen, Unglück oder einfach Zufall erscheinen kann. Während jeder einsame Kinderschänder mit allem Aufwand an sittlicher Entrüstung, den die Gesellschaft zu bieten hat, gejagt wird, nimmt an den Tausenden statistisch kalkulierten Toten der Verkehrsindustrie niemand Anstoß. Die Bekanntgabe eines russischen Wissenschaftlers, daß das Reaktor-„Unglück“ von Tschernobyl direkt oder indirekt eine Million Opfer zur Folge haben wird, war den meisten Medien nicht einmal mehr eine Nachricht wert. Während die Erinnerungslücke eines Präsidentschaftskandidaten bezüglich seiner Nazi-Vergangenheit zu einer internationalen Staatsaffäre hochgepuscht werden konnte, stellt sich angesichts dieser Kranken und Toten die Frage der Verantwortbarkeit erst gar nicht. Dort, wo einem einzelnen „moralisches Fehlverhalten“, wie eine der dümmsten Neuprägungen unserer Tage lautet, nicht nachgewiesen werden kann, hört die ethische Reflexion auch schon wieder auf. Wir supponieren noch immer einen pseudokantischen bösen Willen als Kriteriumgesellschaftlicher Ächtung, wo längst auch diese Kategorie gerade noch ausreicht, das ganz private Glück zu trüben. Es gehört vielleicht zu den wichtigsten Beiträgen von Günther Anders Philosophie, daß er darauf aufmerksam gemacht hat, daß die bislang praktizierten Theorien und Begründungen der Moral an den Bedinungen, unter denen wir handeln müssen, schlicht vorbeigehen. Zwar hat er keine wirkliche konzise Alternative vorgelegt, und seine Förderungen zum Widerstand appellieren notgedrungen an jenes Handlungssubjekt, das längst verschwunden ist. Fraglich aber, ob dieser Widerspruch in einer technisierten Gesellschaft überhaupt auszuräumen ist; fraglich auch, ob Ethik und Moral überhaupt noch sinnvolle Kategorien gegenüber den disaströsen Momenten des öffentlichen Lebens darstellen können. Es wäre im Anschluß an Anders vielleicht reizvoll zu überlegen, wie eine politische Handlungstheorie aussehen könnte, die tatsächlich — und sei es nur aus heuristischen Überlegungen — von der Prämisse, daß die Technik zum Subjekt der Geschichte geworden sei, ernsthaft ausgehen wollte. Man wird dabei mit der vorhin zitierten Andersschen Umformulierung des kategorischen Imperativs auch nicht weit kommen; die Antiquiertheit des Bösen und die Antiquiertheit der Freiheit werden wenig übriglassen als eine subjektlose Verantwortungsethik. Daß heute soviel Wert auf die richtige Gesinnung gelegt wird, daß pausenlos in selbstfinanzierten Inseraten Empörungen und Betroffenheiten bekundet werden, scheint mir ein Indiz für die Sehnsucht nach Gesinnung und Haltung in einer Zeit zu sein, in der nichts unwichtiger geworden ist als eben diese. Man wird sich an eine Moral ohne moralisches Subjekt gewöhnen müssen; man wird sich daran gewöhnen müssen, Effekte ohne Täter zu beurteilen, man wird sich daran gewöhnen müssen, daß die peinlichen Rituale des Auffindens von persönlicher Schuld, die die letzten Kriegsverbrecherprozesse so unerträglich machen, obwohl sie dort noch so halb und halb funktionieren, ihre Legitimität verloren haben werden. Sollte es je zu einem Prozeß gegen jene Generation kommen, die diesen Erdball verwüstet hat wie keine vor ihr, wird es keine Schuldigen mehr geben; denn alle, samt und sonders, werden daran beteiligt gewesen sein. Konrad Paul Liessmann

Schluß des Vortrags, den der Wiener Philosoph Liessmann auf der Anders-Konferenz in Paris hielt.

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