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Prinzessin Lena im Grenzland

Das „Theater der Freundschaft“ in Ost-Berlin. Ein Porträt  ■ Von Simone Schneider

Da fährt man freilich durch ein fremdes Land, um zum „Theater der Freundschaft“ zu gelangen. Ost-Berlin zeigt sich entlang der Frankfurter Allee von seiner sowjetischsten Seite. Neoklassizistische Bauten im Stil von Stalins Kathedralen säumen die breite Ausfallstraße. Sozialistischer Optimismus schlägt sich in dieser prunkvoll himmelstrebenden Architektur nieder, und über dem Weihnachtsmarkt von Lichtenberg funkelte noch im vergangenen November, als auch in Moskau niemand die Demontage so schnell kommen sah, fröhlich ein Roter Stern. Die Bürger gehen einkaufen, einige Läden stehen inzwischen leer, und die Währung hat sich selbst in dieser Gegend verändert. Wenige Straßen weiter beginnt der sozialistische Realismus: Marzahner Plattenbau. Zwei Stadtteile zeigen zwei Gesichter einer Zeit. Das „Theater der Freundschaft“ liegt genau an der Grenze zwischen beiden.

Hier haben die Funktionäre dem Jungvolk eine Art Märchenschloß hingestellt. 1950 wurde Hans Rodenberg damit beauftragt, das „Zentrale Kinder- und Jugendtheater“ der DDR zu gründen. Die Idee einer staatlichen Bühne für Kinder geht dabei auf das Modell des sowjetischen Kindertheaters zurück. 1918 forderte Anatoli Lunatscharski die Errichtung eines professionellen Theaters für Kinder, und mit Natalia Saz an der Spitze gehörte das „Moskauer Kindertheater“ zu den „Attraktionen der sowjetischen Theateravantgarde. Kindertheater mit festem Ensemble, eigenem Haus, speziell ausgebildeten Schauspielern und Regisseuren gab es bis dahin in der deutschen Theatergeschichte nicht, und es blieb bis 1989 auch ein spezielles Ostphänomen. In den „kapitalistischen Ländern“ war die professionelle Theaterabeit für Kinder meist der Initiative einiger Künstler überlassen. Das Schaffen der Freien Gruppen zeigte sich hier ebenso innovativ wie beschwerlich. Doch als nach dem Fall der Mauer allerorten die DDR-staatlichen Betriebe abgebaut wurden, stockte man in Lichtenberg auf. Das Theater der Freundschaft ist nun, mit 520 Plätzen und über 200 Mitarbeitern, das größte gesamtdeutsche Kinder- und Jugendtheater. Intendant Manuel Schöbel spricht sogar von „einer Art Nationaltheater“, dem „Deutschen Theater für Kinder“.

Besonders dicke Wolke

Zumindest was die finanzielle Ausstattung betrifft, hat er damit recht. Als nämlich der Subventionssegen nach dem Gießkannenprinzip über die ostdeutsche Kulturlandschaft ausgeschüttet wurde, stand Schöbel unter einer besonders dicken Wolke. Ein Etat von neun Millionen Mark ist mehr als nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Was so gut gewässert gedeihen soll, wurde in den alten Bundesländern lange wie ein kümmerlicher Ableger, als „vierte Sparte“ der Stadttheater, behandelt. Die üblichen Weihnachtsmärchen ließen die Kinder eher noch weiter in die Röhre gucken. Zu den wenigen Städten, in denen Theaterleute für Nichterwachsene in einem eigenen Haus und mit einem festen Ensemble arbeiten konnten, zählen München (Theater der Jugend) und Berlin-West (Grips). Ihre Arbeit könnte dafür ausschlaggebend gewesen sein, daß man das Ostmodell im Vereinigungsprozeß nicht einebnete.

Nun ist also der junge Intendant in Lichtenberg der König des Kindertheaters, und hat dabei eine Laufbahn hinter sich, die so manchen Theaterwissenschaftler in den Dreißigern nur staunen läßt: Mit 31 Jahren ist er ein bereits erfahrener Theaterregisseur, -dramaturg und -autor. Im Mai 1991 übernahm Manuel Schöbel das Haus und entwickelte zusammen mit Peter Schroth, Leiter des bat-Studiotheaters, sowie zwei neuen Dramaturgen einen Fahrplan, der den brachliegenden Betrieb auf Vordermann bringen sollte. Dazu brauchte das Theater vor allem ein neues Publikum. 15.000 versandte Werbebriefe zu Beginn der Spielzeit zeigten keinerlei Wirkung, die Stuhlreihen blieben leer, und Schöbel trat die Flucht nach vorn an: Ein neues Publikum braucht ein neues Theater. Vor staunenden Kinderaugen zauberte er es Ende letzten Jahres aus dem Hut. Im sogenannten „Familienherbstpaket“ hielten sieben Premieren in einer Woche Publikum und Belegschaft in Atem. Dieser Kraftakt bewies wohl nicht nur Ivan Nagel, der in seinem berühmten „Papier“ zur Berliner Theaterlandschaft auf eine Namensänderung gedrängt hatte (bezog sich doch die „Freundschaft“ im Titel traditionsgemäß vor allem auf die „deutsch-sowjetische“), daß in seinem Haus ein neuer Wind weht. Weitere „Premierenpakete und -bündel“ sollen folgen. An Ende der Spielzeit wird es in Lichtenberg ein Repertoire von rund zwanzig Stücken zu sehen geben.

Unternehmen Känguruh

Schöbel will mit seinem Spielplan Theater für alle Altersgruppen machen. Kinder-, Märchen-, Jugend- und Erwachsenenstücke stehen auf dem Programm, oftmals laufen zwei bis drei verschiedene Vorstellungen täglich. Schöbel klotzt rein, und das mit Konzept: das Unternehmen „Känguruh“ bietet Parallelvorstellungen für Kinder und Erwachsene an, ein Modell für Kind und Kegel, das schon am Dresdner „Theater der jungen Generation“, wo Schöbel als Dramaturg gearbeitet hat, praktiziert wurde. Auch die „Theaterpädagogische Abteilung“, eine Einrichtung, die es an Westtheatern so nicht gab, setzt ihre Arbeit fort. Sie begleitet die Vor- und Nachbereitung von Stücken in den Schulklassen, veranstaltet Theaterführungen, Probenbesuche und so weiter. Jüngstes Aufgabenfeld ist eine „vergleichende Rezeptionsuntersuchung“: Anhand einer Inszenierung von Heleen Verburgs Stück Winterschlaf, das das Theater der Freundschaft parallel zum „Theater der Jugend“ in München uraufgeführt hat, soll festgestellt werden, wie verschieden die Erfahrungen von West- und Ostkindern eigentlich sind. Ein Inszenierungsaustausch findet noch in diesem Frühjahr statt.

Schöbel setzt auf die Erfahrungen anderer Jugendtheatermacher, auf künstlerisches Joint-venture. So engagierte er den Hamburger Regisseur und Leiter des dortigen Jugendtheaters, Jürgen Zielinski, für die Inszenierung von Staffan Götestams Grenzland, einem Stück über Aids, ehemals ein Tabuthema auf realsozialistischen Bühnen und in gleichnamiger Wirklichkeit. „Kindertheater soll subversiv sein“, formuliert Schöbel die emanzipatorische Absicht seiner Arbeit in einem Interview. Verglichen mit der guten alten Zeit des „Grips“ und der „Roten Grütze“, die sich sehr deutlich aus einem politischen Anspruch heraus formierten, geht man in Lichtenberg mit dieser Behauptung des Theaterleiters eher subtil um. Auffallend ist die direkte Reaktion auf die jüngsten Ereignisse der Vergangenheit. Schöbel schrieb eigens ein Stück dazu: Prinzessin Lena, eine Bearbeitung von Büchners Leonce und Lena, in der die Streiterei zwischen den Duodezfürstentümern Pipi und Popo auf deutsch-deutsche Verhältnisse übertragen wird.

Wichtiger und überzeugender als alle programmatischen Äußerungen ist jedoch die Ernsthaftigkeit, mit der an der Parkaue Theater für Kinder gemacht wird. Das Stück mit dem agitatorischen Titel Aufruhr in Schnauzhaltersheim von Wilfried Grote, ist zugleich das poetischste: Der gute Sänger Zungenschlag, der seine Braut an das kleinmütige Großmaul verliert, gewinnt die Herzen der Zuschauer nicht durch Argumente, sondern durch sein wahrhaft herzzerreißendes Spiel.

Der Schauspieler Steffen Steglich weiß, für wen und warum er bereits nachmittags um 15 Uhr auf der Bühne steht, und das ist, mit eben jenen neun Millionen gepolstert, vielleicht wirklich subversiv — für Menschen ab sechs.

Undankbare Jugend

Weniger überzeugend wirkt die Arbeit des Theaters für Jugendliche und Erwachsene. Gerade die aufgemotzten Klassiker (Amphitryon, Leonce und Lena) wirken eilig zusammengestrichen und allzu oberflächlich modernisiert, man glaubt sich an die Anfänge des Regietheaters der siebziger Jahre versetzt: Amphitryon in Bomberstiefeln, Jupiter am Mikro, Merkur mit Sonnenbrille, Leonce, Lena und Laurie (Anderson) und so weiter. Dagegen wirkt Volker Ludwigs abgenudelte Hitparade im Grips geradezu agitprop. Doch selbst die würde die Kids aus Marzahn ja nicht von ihrem Abenteuerspielplatz „Zivilisationsruine“ in die Theatersessel locken.

Kinder sind ein dankbares Publikum, Jugendliche kaum. Die Bedürfnisse der Zuschauer, die auch ohne Mami und Papi ins Theater gehen, sind weitgehend unerforscht. Schöbel weiß das, und plant deswegen ein Autorenprojekt zu speziellen „Jugendthematiken“. Aber vielleicht sind die Weichen schon hier falsch gestellt. Sozialpädagogik eignet sich einfach nicht dazu, eine „Theatromanie“ zu entfachen, und jeder vermeintlich aufklärerische Impetus, zum Beispiel die „Besinnung auf ethische Grundwerte des Zusammenlebens“ (Schöbel), ist viel zu weltanschaulich allgemein. Die Idee, die ganze Familie ins Theater zu locken, ist redlich, „Theater statt Fernsehen“ sowieso; aber Zielgruppenzuschnitt, auf den man auch im Theater der Freundschaft setzt, hieße, daß aus einer Vorstellung für Sechzehnjährige alles über Zwanzig rausläuft.

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