: Evtl. Orgel mit Kanonen und Geläut?
■ Im Geräuscharchiv von Radio Bremen: 10.000 Expl. Ohrenschmaus / Was fehlt, macht Werner Staats
„Haben Sie Nerven?“ fragt Werner Staats seine Besucherin. „Dann passen Sie mal auf!“ — und schon donnert ein Intercity mit 250 Kilometern pro Stunde durch das kleine Geräuscharchiv von Radio Bremen. Der Ton kommt so klar, so ungetrübt von irgendeinem Nebenrauschen aus der neuen CD-Anlage, daß er unvermutet an Sphärenmusik erinnert. Und er klingt genauso unwirklich.
„Das können wir aber ändern“. Werner Staats holt mit sicherem Griff ein Tonband aus dem über 2.500 Bandkartons starken Archiv. Vogelgezwitscher, Kuckucksruf, und vor allem das leise Hintergrundgeräusch, das es auf den CDs nicht mehr gibt —in dieser neuen Mischung rast der Intercity durch eine Waldidylle, und plötzlich klingt das wieder nach Radio.
Weit über zehntausend Geräusche aller Art lagern in diesem Archiv, ohne das die Hörspielredaktion aufgeschmissen wäre, ja ohne das selbst die Morgensendung „Kaffeepott“ auf Bremen 1 seine Wortspielwiese beschneiden müßte.
Gerade kommt der Moderator rein: „Orgelpfeife sollen die Hörer raten. Pfeifen kann ich selbst, aber orgeln?“ Staats sucht im Archiv. „Orgel mit echten Kanonen und Kirchenglocken? Hm.“ Er legt eine „Belgische Orgel“ ein, aber das ist ist eine Straßenmusiker-Orgel, mit Schlagzeug und Tute gleich dabei. Schließlich machts die „Orgel nach dem Gottesdienst“, und der Moderator zieht befriedigt mit dem Material für sein Wortspiel ab.
Die meisten Außengeräusche beziehen sich auf den Straßenverkehr, die meisten Geräusche „mit Publikum“ auf Sport: Das Archiv ist ein schöner Spiegel unserer Gesellschaft. Oder etwa nicht? „Einsames Wolfsgeheul“, „Schuhputzerrhythmus“. „Kuchenteig rühren“, „Schritte auf Müllhalde“, „Zikaden am Meer“. „Kinderstimmen“, „Kneipe in Bayern“, „Feld und Wald ohne Auto“... Die Kartei platzt aus allen Nähten.
Werner Staats arbeitet gerade an einem Computerprogramm zur Erleichterung der Geräuschrecherche. Das ändert aber nichts daran, daß man nicht die ganze Welt der Töne im Archiv fassen kann. Oft macht sich Staats mit seiner „Maschine“, dem Tonbandgerät unterm Arm auf, um neue Geräusche einzufangen. Besagtes „Feld und Wald ohne Auto“ ist draußen im Blockland entstanden. Und wie mühsam! Nach langem Warten auf die schönste Naturstille kam mit Gedröhn eine Cessna vorbeigeflogen und verdarb die Aufnahme. Also alles noch mal von vorn.
500 Geräusche hat Staats in den dreizehn Jahren seiner Arbeit für Radio Bremen eigenhändig beigetragen. Erstaunlich, wenn man bedenkt, daß er sich jahraus, jahrein in vielen Abteilungen zugleich tummelt: Er ist Regieassistent und Aufnahmeleiter bei Hörspielproduktionen, übernimmt dabei selbst mal kleine Sprecherrollen, telefoniert nach abseitigen Geräuschen herum (auf diese Weise z.B. ist „Einsames Wolfsgeheul“ in das Bremer Archiv gekommen) — und spielt dazu noch den Retter in der Not, wenn Anfragen aus den anderen
ARD-Sendern kommen.
Bei aller neuen, absolut „rauschfreien“ Technik sind die uralten Tricks der Geräusche-Illusion noch lange nicht verbraucht. „Schritte im Schnee“ entstehen immer noch durch das Drücken zweier kleiner Mehlbeutelchen, und in der Requisitenkammer, die sich allerdings gerade im Umbau befindet, lagern auf jeden Fall die berühmten Kokosnüsse als Pferdehuf-Ersatz.
Paradoxerweise sind die modernen Hörspielean der heutigen ausgefeilten Geräuschetechnik gar nicht unbedingt interessiert. Die große Zeit des Naturalismus ist vorbei. Die Geräusche werden oft nur als Symbol oder Signal eingesetzt, eine bloße Andeutung genügt. Werner Staaks aber liebt verständlicherweise die „Klassische Form“. Sie stellt die größten Herausforderungen an sein Können.
Seine eigenen Wagnisse als Hörspielautor allerdings sind, nach seinen Andeutungen zu schließen, durch und durch experimentell. Ob das mal zu hören sein wird? Vielleicht gar einmal in der Villa Ichon, wo Radio Bremen an jedem letzten Mittwoch im Monat seine neuesten Produktionen vorstellt? Bei den meisten hat Werner Staats ohnehin seine Bänder im Spiel. Cornelia Kurth
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