: Die Ärmsten bleiben draussen
■ Wohnungsspekulation macht auch vor den "etablierten" Elendsvierteln Rios wie Rocinha, größte Favela Lateinamerikas, nicht halt. Aufsteiger bleiben der Favela treu, die Armen auf der Straße.
Wohnungsspekulation macht auch vor den „etablierten“ Elendsvierteln Rios wie Rocinha, größte Favela Lateinamerikas, nicht halt. Aufsteiger bleiben der Favela treu, die Armen auf der Straße.
VONASTRIDPRANGE
„Pst. Ich kann nicht mehr einhalten.“ Eine Bettlerin hockt in der Ecke des Treppenhauses und fleht die Passanten verzweifelt an wegzuschauen, während sie ihr Geschäft verrichtet. Vom Aufgang zum Standesamt in Copacabana hätte man eigentlich etwas anderes erwartet.
Zwei Minuten später wird die alte Frau vom wütenden Hausmeister auf die Straße geprügelt. Sie stolpert auf den Bürgersteig, bricht zusammen und bleibt reglos auf dem Asphalt liegen. Niemand bückt sich nach ihr. Wo soll die Obdachlose auch hin? Bars und Restaurants in dem berühmt-berüchtigten Stadtteil von Rio de Janeiro haben ihr den Zutritt längst verwehrt.
Und von einer Unterkunft in den Elendsvierteln, genannt Favelas, kann die zunehmende Zahl der Obdachlosen nur noch träumen. Eine Wohnung im Südteil der Stadt mit Blick aufs blaue Meer ist längst ein Privileg. Eine feste Adresse, Voraussetzung für jede Anstellung, die Favela-Bewohner mit der monatlichen Stromrechnung nachweisen, ist für die Ärmsten kaum erreichbar.
Manuel da Silva (alle Namen von der Redaktion geändert), Zuwanderer aus dem Nordosten, ist gerade dabei, an seinem Traum vom eigenen Haus zu basteln. Mitten im Urwald, neben einem Bach mit kristallklarem Wasser, hat er sein Grundstück abgesteckt und bereits Zementpfeiler in die rote Erde getrieben. Um das Baumaterial zu bezahlen, kellnert er nachts in den Restaurants der Südzone. Tagsüber schläft er in einem erbärmlichen Holzverschlag und baut an seinem Haus. „Wenn es fertig ist, hole ich meine Familie“, meint der Besetzer.
Zweihundert Familien sind bereits in den Wald unmittelbar neben Rocinha, der größten Favela Lateinamerikas , eingedrungen. Viele der Bewohner von Vila Verde (Grünes Dorf) flohen vor den hohen Mieten im Armenviertel nebenan. Platzmangel (die Häuser können dort nur noch in die Höhe wachsen) und die zunehmende Kaufkraft der Bevölkerung haben die Preise explodieren lassen. Eine Einzimmerwohnung in Rocinha ist genauso teuer wie in Copacabana. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: „In Rocinha unterschreibt einer den Vertrag, und fünf ziehen ein“, meint Jorge Mamao, Vorsitzender der Anwohnervereinigung. Außerdem lebe die Mehrheit der favelados nach wie vor in selbstgebauten Häusern.
Einige Gebäude der Vila Verde haben mit bescheidenen Favela-Behausungen nur noch den rutschigen Boden gemein. Jorge Mamao erklärt, wie die ansonsten sehr ansehnlichen Häuser zustande kommen: „Sobald jemand anfängt, eine Baracke hochzuziehen, schlagen ihm findige Geschäftsleute vor, er brauche lediglich das Erdgeschoß zu bauen. Dann setzen sie noch ein paar Stockwerke obendrauf und vermieten die Wohnung gewinnbringend.“
Stadtverwaltung und Anwohnervereinigung sind machtlos gegenüber der zunehmenden Invasion und Immobilienspekulation. Die brasilianische Umweltbehörde (IBAMA) hat die Stadt Rio wegen des unrechtmäßigen Kahlschlags verklagt. Ohne Erfolg. „Alles, was wir machen können, ist, jetzt schon für eine Infrastruktur zu sorgen und die Leute in Vila Verde davon überzeugen, im eigenen Interesse nicht alles abzuholzen“, meint Jorge Mamao resigniert.
Reichste Favela Lateinamerikas
Rocinha ist mit rund 250.000 Einwohnern nicht nur die größte, sondern auch die „reichste“ Favela Lateinamerikas. Fast alle Häuser haben Strom und fließend Wasser. Das Einkommen pro Familie beträgt im Durchschnitt rund 200 Dollar, das Vierfache des brasilianischen Mindestlohns. Nachts gleicht der dichtbesiedelte Hügel zwischen den Stadtteilen Gávea und Sao Conrado einem Weihnachtsbaum im Kerzenschein. Unzählige Lichter flackern in der Dunkelheit und umreißen seine gigantischen Dimensionen.
Hinter dem Lichtermeer verbirgt sich eine eigene Stadt. In Rocinha streiten sich über 3.000 Geschäfte — Supermärkte, Markthändler, Schlachter, Möbelgeschäfte und Modeboutiquen, Friseure und Fitnesscenter — um die Kaufkraft der favelados. Zwölf Kindergärten, drei öffentliche Schulen und Polizeireviere sowie Post und Bankfiliale sorgen dafür, daß die Einwohner von Rocinha die Favela für ihre täglichen Besorgungen nicht verlassen müssen.
Baumaterialien — die Favela-Goldmine
Viele Geschäftsleute könnten sich ein luxuriöses Apartment auf dem Asphalt leisten. Doch die meisten ziehen es vor, in Rocinha zu bleiben. „Ich könnte in Sao Conrado wohnen, aber was mache ich mit meinen Freunden? Dort unten gibt es keine Freundschaft zwischen Nachbarn, sie werden mich als favelado diskriminieren“, befürchtet der Inhaber eines Geschäfts für Baumaterial. Die „Goldmine“ in der Favela hat ihn gleichzeitig zum Besitzer mehrerer Mietshäuser gemacht, die er an „Freunde“ vermietet.
Marcos Oliveira ist mit seinem Dasein in der Favela ebenfalls vollauf zufrieden. Nach einer kurzen Ausbildung hat er in seinem dreistöckigen Haus ein Labor zur Anfertigung von Zahnprothesen eingerichtet. Er beliefert rund 20 Zahnärzte in der Stadt. „Hier gebe ich eine Prothese für 50.000 Cruzeiros (etwa 45 Dollar) weg, in der Südzone kostet so ein Gebiß das Vierfache“, meint er. Umziehen will er um keinen Preis. „Wozu? Ich habe hier einen atemberaubenden Blick aufs Meer, wohne verkehrsgünstig und bequem und zahle keine Miete“, erklärt der Prothesenhersteller auf seiner geräumigen Terrasse, ausgestattet mit Swimmingpool und Grill. Ein Blick von dort aus zeigt, daß er nicht der einzige ist, der sich in Rocinha diesen Luxus leistet.
„Wir sind gar nicht so bedürftig, wie es scheint“, korrigiert Jorge das gängige Vorurteil, nach dem sich in einer Favela nur schießwütige Drogenhändler in Bretterbuden verstecken und Kinder mit Hungerbäuchen in ihrem eigenen Dreck spielen. Natürlich wird in dem Labyrinth der engen Gassen weiterhin mit Drogen gehandelt. Doch der Einfluß auf die Politik der Anwohnervereinigung sei gebrochen, versichert Jorge. Weder Geschäftsleute noch Kneipiers würden heute auf Anweisung der Drogenbosse schließen.
Statt auf Drogenhandel gründet sich der Wohlstand von Rocinha auf die Arbeitskraft seiner Einwohner. Die Favela stellt das gesamte Arbeitskontingent — Mechaniker, Bauarbeiter, Kellner, Putzfrauen, Köchinnen — der wohlhabenden Südzone Rios. „Die wenigsten verdienen hier einen Mindestlohn (rund 100 Mark). Ein Bauarbeiter bekommt hier 20.000 Cruzeiros (rund 18 Dollar) pro Tag, die Südzone zahlt gut“, so Jorge.
Er selbst wohnt in einem zweistöckigen Haus, das heute rund 3.000 Dollar wert ist. Stolz zeigt der pensionierte Polizist sein Wohnzimmer, ausgestattet mit Farbfernseher, Aircondition und Video. An jeder Wand prangt ein Foto von ihm und Präsident Fernando Collor de Mello. Der brasilianische Staatschef hatte ihn kürzlich zusammen mit anderen Anführern aus Armenvierteln in die Hauptstadt Brasilia eingeladen, um ihn beim Herabsteigen der Rampe des Regierungspalastes zu begleiten.
Bei der Inneneinrichtung fehlt es an nichts
In Rocinha gibt es kaum noch Holzhütten, die meisten Häuser sind aus roten Backsteinen, und ihe Fassade wird fein säuberlich mit Zement verputzt. „Es mag schon sein, daß die Häuser von außen eher schäbig aussehen. Doch bei der inneren Einrichtung fehlt es an nichts“, versichert Jorge beim Rundgang durch die Favela. Farbfernseher, Video und Kühlschrank gehörten zur Standardeinrichtung. Die „Mittelklasse“ von Rocinha schicke ihre Kinder auf Privatschulen, wohne in der Nähe der Straße und leiste sich ein schickes Auto. Weil die engen Gassen keinen Autoverkehr zulassen, stellen die Besitzer ihre Fahrzeuge auf dem Parkplatz der Favela ab. Der Platz ist voll.
Lieber gut essen statt teuer wohnen
Thomas Karsch, Soziologe an der Universität in Frankfurt, stieß bei seinen Untersuchungen im wesentlich ärmeren Favelagebiet Maré im Norden von Rio auf dasselbe Phänomen. „Die Leute wollen lieber gut essen und wohnen dafür in der Favela. Der Sprung zur Mietwohnung ist groß“, lautet seine Erfahrung.
In Zusammenarbeit mit der Anwohnervereinigung von Maré, der Katholischen Universität von Rio (PUC) und der Brasilianischen Vereinigung für Bildungs- und Sozialarbeit (FASE) befragte der 33jährige 417 Favela-Bewohner sowohl zur allgemeinen politischen Lage als auch zu Problemen innerhalb ihrer Gemeinde. Finanziert wurde die Feldstudie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Erstaunlicherweise fanden nur 32 Befragte den Wohnungsmangel gravierend. An erster Stelle stand für die favelados der Verlust der Kaufkraft: 297 Bewohner beklagten sich über die niedrigen Löhne.
Gemeinsam ist beiden Favelas ihr Mißtrauen gegenüber großartigen Versprechungen von Politikern. Maré soll anläßlich der UNO-Umweltkonferenz in Rio Anfang Juni mit einer neuen Schule, Kindergärten, Grünanlagen und Sozialwohnungen geschmückt werden. Der Grund: Der Favela-Komplex liegt direkt an der neuen Schnellstraße „Linha Vermelha“, die, ebenfalls anläßlich der UNO-Konferenz, vom Flughafen ins Stadtzentrum führt.
Rocinha wartet noch immer auf das Geld der Weltbank zur Urbanisierung der Favela. Dazu gehören Kanalisierung von Abwässern, Asphaltierung der wichtigsten Treppenaufgänge und Straßen, Kinderkrippen, Schulen und Wiederbegrünung der kahlgeschlagenen Hänge. Jorge Mamao versichert, daß die Arbeiten im März beginnen werden. Die Auswahl von Rocinha hat für die Stadtverwaltung von Rio zwei entscheidende Vorteile: zum einen sind die gröbsten Vorarbeiten schon getan, und zum anderen liegt das Armenviertel ebenfalls an einer Straße zum Kongreßzentrum, wo die Umweltkonferenz abgehalten wird.
Doch die Anerkennung von Rocinha als normales Stadtviertel hat auch ihre Schattenseiten. Gemeinderat Mauricio Azêdo fürchtet, daß dadurch die Spekulation nur noch schlimmer wird. Sicherlich werden sich auch nicht alle Hausbesitzer damit einverstanden erklären. Denn die Regulierung der Besitzverhältnisse bringt saftige Immobiliensteuern mit sich. Die Millionen von Cruzeiros, die die blühende Schattenwirtschaft von Rocinha täglich umsetzt, würden ebenfalls besteuert. Jorge Mamao will die Geschäftsleute schon jetzt dazu zwingen, eine Abgabe an die Anwohnervereinigung zu leisten. Damit könnte ein Fonds zur Unterstützung der privaten Kindergärten geschaffen werden. „Bisher“, so Jorge, „haben sich die Kleinen vom Abfall der Märkte ernährt.“
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