: Hansaplast gegen Zeitbomben
■ Der Atomunfall nahe St.Petersburg hat gezeigt: Auch sechs Jahre nach Tschernobyl hat die Atomindustrie kein Konzept für eine Zukunft ohne die gefährlichen Ostmeiler. Sie favorisiert die Nachrüstungslösung.
Hansaplast gegen Zeitbomben Der Atomunfall nahe St.Petersburg hat gezeigt: Auch sechs Jahre nach Tschernobyl hat die Atomindustrie kein Konzept für eine Zukunft ohne die gefährlichen Ostmeiler. Sie favorisiert die Nachrüstungslösung.
Geld oder Leben“, so faßte der Fernsehkommentator die Botschaft des neuesten Reaktorunglücks in Rußland zusammen. Die Botschaft ist zwar nicht ganz neu, aber beim genauen Hinsehen zeigt sich, daß in den vergangenen sechs Jahren seit Tschernobyl nur Mundwerke, aber kaum eine Hand für mehr atomare Sicherheit in Osteuropa sich gerührt haben. Und für die wirklichen Alternativen — Einsparung und höhere Effizienz angesichts des immens hohen Energieverbrauchs in den Ländern der GUS— wollen die Entscheidungsträger im Westen offenbar gar nichts tun. Letztes Beispiel für die Steifnackigkeit: In Brüssel wird über technische Hilfe für die GUS-Staaten verhandelt. Atomprojekte für 264 Millionen Mark haben die EG-Bürokraten als förderungswürdig erachtet, bei der Energieeinsparung sind ihnen gerade Projekte für 13,4 Millionen eingefallen .
Die EG-Bürokraten sind sich sicher keiner Schuld bewußt. Sie können sich bei ihrer Förderungspraxis schließlich auf Traditionen stützen. Im vergangenen Herbst zitterte ganz Europa vor den Krisenreaktoren im bulgarischen Kosloduj. Die Internationale Atomenergiebehörde in Wien (IAEA), sonst eher zurückhaltend mit solchen Urteilen, attestierte dem AKW die Gemeingefährlichkeit und riet zum Abschalten. Bundesumweltminister Klaus Töpfer machte sich die Stillegungsforderung zu eigen und lieferte dann Ersatzteile für die alten Reaktoren. Zwei der sechs Reaktoren stehen jetzt zur Überholung still, aber die anderen vier bedrohen Europa weiter. Nicht einmal die dringendsten technischen Nachrüstmaßnahmen sind dort wirklich erfolgt. Die Forderung der bulgarischen Regierung, sie bei der Stromproduktion aus der heimischen Kohle zu unterstützen, ist einfach ignoriert worden.
Dabei liegt in der Einsparung von Energie kurzfristig und mittelfristig der zentrale Hebel, um in ganz Osteuropa auf die gefährlichen AKWs verzichten zu können und dennoch die Lichter nicht ausgehen zu lassen. „Der Energieverbrauch wird in jedem Fall zurückgehen“, ist sich Ulrich Weißenburger vom deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) auch für Rußland sicher. Einige der besonders energiefressenden Branchen, wie die Stahlproduktion, würden jetzt schon schrumpfen. Wie weit das gehen kann, demonstrieren derzeit die fünf neuen Bundesländer. Dort ist der Strombedarf seit der Wende um über ein Drittel zurückgegangen.
Doch die Atomindustrie hat andere Prioritäten. Adolf Hüttl, Siemens-Vorstand, trägt gebetsmühlenhaft immer wieder die Industrielösung für das Energiedilemma Osteuropas vor. 14 Milliarden Mark koste eine vertretbare Nachrüstung der neueren Ostreaktoren, rechnet der Atomkraftfan vor. Einen großen Teil davon verspricht er sich von öffentlichen Geldgebern.
Wirksame Investitionen in Energieeffizienz
Die Gefahr, daß Staatsknete in die Wiederbelebung der westlichen Atomindustrie via Nachrüstung gefährlicher Ost-AKWs geht, sieht auch Greenpeace. Die Organisation hat daher einen der wichtigsten potentiellen Geldgeber, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EWBE) kürzlich aufgefordert, kein Geld für solche Nachrüstungen zur Verfügung zu stellen. Geld von der EWBE gilt immer als Startzeichen auch für private Kapitalgeber. Keiner der Sicherheitsmängel der Ostreaktoren könne durch Nachrüstung wirklich nachhaltig beseitigt werden, argumentiert der Greenpeace-Wissenschaftler John Willis. Vor allem aber seien Investitionen in eine erhöhte Energieeffizienz allemal preiswerter und wirksamer als diese Nachrüstungsmaßnahmen.
Einsparspielräume existieren auch bei der Energiebilanz. Schließlich hat die UdSSR noch in den letzten Jahren ihrer Existenz über ein Fünftel ihres Stroms exportiert. Und selbst russische Experten würden zugestehen, daß man den Energiebedarf um ein Drittel senken könne, in der Industrie sogar um mehr.
Als Beispiel für westliche Untätigkeit kann vor allem die WANO herhalten, die „World Association of Nuclear Operators“, ein Zusammenschluß der Atomkraftwerks-Betreiber in Ost und West. Sechs Jahre nach Tschernobyl und im Jahre drei nach dem Mauerfall hat die WANO nicht einmal eine Studie über die Alternativen zu den Krisenreaktoren im Osten zustande gebracht. Louis Gilly, Geschäftsführer der WANO in Paris, entschuldigt die Atomunternehmen— zu denen an vorderster Front die deutsche RWE und der größte deutsche Atomstromer PreußenElektra gehören — mit dem Chaos in den GUS-Staaten. Gilly gesteht aber zu, daß die Russen durchaus „einigen Strom aus dem Westen importieren könnten“. Die Netzverbindungen von West nach Ost würden das nur noch nicht zulassen.
Der Mann, immerhin ein hoher Repräsentant der Atomindustrie, ist sichtlich nicht im Bilde. Erst vor wenigen Tagen hat die österreichische Elektrizitätswirtschafts AG einen Stromlieferungsvertrag mit der Ukraine geschlossen. Danach soll die Ukraine in den kommenden 15 Jahren bis zu 800 Millionen Kilowattstunden Atomstrom jährlich nach Österreich exportieren. Für größere Liefermengen wird extra eine zweite Netzverbindung nahe Wien geplant, hieß es in den Berichten auch der 'FAZ‘. Der ukrainische Atomstrom soll nach den Berichten durch österreichische Ingenieurleistungen bezahlt werden, mit denen dann Kohle- und Gaskraftwerke in der Ukraine nachgerüstet werden sollen. Zusätzlich importieren die Österreicher nach Angaben der bayerischen Grünen auch noch Strom aus Bulgarien — vom dortigen AKW Kosloduj. Eine fesche alpenländische Lösung — bietet doch die österreichische Regierung der CSFR seit fast zwei Jahren steigende Geldbeträge, wenn Prag die AKWs vor der österreichischen Haustüre abschaltet. Zuletzt war von einer halben Milliarde Mark im Jahr die Rede. Wie schnell eine solche Netzverbindung aber funktionieren könnte, wenn es denn wirklich gewollt wäre, hat die deutsche Vereinigung gezeigt. Da konnte innerhalb weniger Monate ein Westkraftwerk (Helmstedt) aus dem Westnetz ausgekoppelt und ins Ostnetz eingekoppelt werden.
Zentraler als alle Stromexporte sind aber in den Staaten der GUS und in ganz Osteuropa die Energieeinsparungen. Sowjetische Experten bekannten im vergangenen Sommer, daß mindestens ein Drittel ihres Stroms verschwendet werde, und westliche Experten rechnen vor, daß die Industrie in Rußland mit 40 Prozent weniger Strom auskommen könnte. Die Abschaltung der Atomkraftwerke scheitert aber auch an strukturellen Problemen. Für die Atomkraftwerke ist ein anderes Ministerium zuständig als für die gesamte sonstige Energieversorgung. Und die Apparate in beiden Ministerien sind nur darauf aus, ihren Einflußbereich auszudehnen. Proteste gegen die Atomkraft werden in erster Linie als Störung der eigenen Kreise begriffen. O-Ton des russischen Vizeenergieministers Wladimir Dschangirow: „Angesichts der begrenzten Energieressourcen (im Westen Rußlands, die Red.) wurde als rationalste Richtung der Bau von Kern- und Wärmekraftwerken gewählt...“ Hermann-Josef Tenhagen
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