: Hinter der Grenze steht der Knast
NRW-Minister erkunden niederländische Drogenpolitik/ Gesundheitsminister Heinemann will jetzt Ausweitung der Methadon-Versorgung/ NRW-Justizstaatssekretär: Therapie statt Strafe durchsetzen ■ Aus Amsterdam Walter Jakobs
Für die Menschen, die die steilen, abgewetzten Stufen im Haus No. 179 der Weteringschans in Amsterdam hochsteigen, ist das im ersten Stock gelegene kleine Café in der Regel die letzte Zufluchtsstätte. „Hilfe vor Strafe“, lautet das Motto des hier angesiedelten deutsch-niederländischen ökumenischen Zentrums (Amoc). Diese Hilfe hat auch der 35jährige Thomas erfahren. Thomas, der beinahe 20 Jahre an der Nadel hängt, lebt seit drei Jahren illegal in Amsterdam. Das fällt täglich schwerer, denn die „Entmutigungspolitik“ der niederländischen Regierung gegenüber ausländischen Junkies wird konsequent durchgezogen. Von Methadonprogrammen oder Therapieplätzen bleiben Ausländer ausgeschlossen. Hilfe gibt es nur in absoluten Notfällen. Die letzten drei Monate hat Thomas wegen einer bösen Beinverletzung aus medizinischen Gründen ausnahmsweise Methadon bekommen. Nachts kam er in dem von Amoc betriebenen „Nachtauffang“ unter. Weil das Bein wieder okay ist, steht Thomas erneut auf der Straße, täglich gezwungen, sich die Tagesdosis Heroin oder Methadon irgendwie zu organisieren.
Knast statt Programme
Die einzige Chance, diesem Elend zu entkommen, sieht Thomas in der Teilnahme an einem Methadonprogramm in Deutschland. Doch auf der anderen Seite der Grenze wartet der Knast. Thomas hat drei Jahre offen. Ein Horror, wenn er daran denkt, wieder einfahren zu müssen. Ein „kalter Entzug“ im Knast liegt hinter ihm — Koma eingeschlossen. Ein zweites Mal will er das nicht mehr mitmachen. Wie Thomas möchte auch die 33jährige Carmen nach Deutschland zurück. Carmen hat 17 Jahre Heroin gespritzt, ist HIV-positiv. Auch ihr Weg zurück ist versperrt. Vier Staatsanwälte suchen sie. Ginge alles den normalen bürokratischen Gang, müßte sie bei einem Grenzwechsel das Amsterdamer Elend mit dem Zwangsentzugshorror im Knast eintauschen. „Nie wieder“, sagt Carmen.
Nach anderen Wegen der Rückkehr für Menschen wie Carmen und Thomas sucht Rüdiger Klebeck, der für die nordrhein-westfälische „Rückkehrhilfe“ in Amsterdam arbeitet. Im letzten Jahr hat Klebeck für 26 Junkies einen Ausweg gefunden. Therapie statt Strafe, Methadon statt Knast, lautet die Lösungsformel — auch für die bittersten Fälle. Drei Staatsanwälte wollten zuletzt auch bei Carmen mitspielen, doch weil der vierte auf der Vollstreckung einer zwölfmonatigen Haftstrafe bestand, blieb der Plan ein Plan.
Am vergangenen Donnerstag keimte im Café an der Weteringschans indes auch für Carmen so etwas wie ein Hoffnungsschimmer auf. Er hing zusammen mit drei fein gewandeten älteren Herren, die sich den engen Gang ins Amoc-Café hinaufgezwängt hatten. Die drei Besucher aus Düsseldorf, Innenminister Herbert Schnoor, Gesundheitsminister Hermann Heinemann und Justizstaatssekretär Röwer könnten einiges tun, um das Elendskarussel für Menschen wie Thomas und Carmen zu stoppen. Ein konkretes Versprechen gab der zweite Mann der nordrhein-westfälischen Justiz, Röwer, noch vor Ort: Künftig kann Rüdiger Klebeck sich über den nordrhein- westfälischen Drogenbeauftragten direkt an die Spitze des Justizministeriums wenden. Legt sich ein Staatsanwalt quer, will Röwer intervenieren, denn „wir können die Staatsanwälte jederzeit anweisen, auf die Vollstreckung einer Haftstrafe zugunsten einer Therapie zu verzichten“. Ob Röwer sich im fernen Düsseldorf an diese Zusage künftig erinnern wird?
Für die meisten der weit über tausend in Amsterdam lebenden deutschen Junkies ist die Rückkehr ohne Knast und Zwangstherapie so lange unmöglich, wie es an ausreichenden Methadonprogrammen und Therapieplätzen fehlt. Derzeit stehen für die rund 20.000 Heroinabhängigen in NRW gerade mal 200 Methadonplätze zur Verfügung. Schon für dieses — 1987 begonnene — kleine Modellprogramm erntete Gesundheitsminister Heinemann seinerzeit das wütende Geheule der konservativen Opposition. Künftig werden sie sich wohl heiser schreien, denn am Ende seiner Reise durch die Niederlande kündigte der Minister an, daß es ihm darum gehe, bei der Methadonvergabe in Deutschland künftig „holländische Verhältnisse zu schaffen“.
Dreiviertel aller Junkies auf Methadon
12.000 der etwa 15.000 bis 20.000 niederländischen Heroinsüchtigen bekommen täglich ihr Methadon. Die Krankenkassen und Versicherungen zahlen dafür genauso wie für den durch Rauchen enstandenen Lungenkrebs oder den angesoffenen Leberschaden. Solange sich deutsche Krankenkassen weigern und den Konservativen nichts anders als Knast einfällt, wird das Massensterben der Junkies — allein im letzten Jahr über 2.000 in Deutschland — indessen weitergehen.
Für die drei hochkarätigen „Drogentouristen“ aus Düsseldorf steht jedenfalls fest, daß die Drogenpolitik der von den Christdemokraten geführten niederländischen Regierung weit erfolgreicher ist als alle strikten Law-and-order-Varianten. Der Erfolg läßt sich auch in Zahlen ausdrücken. Seit 1987 hat sich z.B. In Amsterdam die Zahl der Heroinsüchtigen um fast 2.000 auf etwa 6.500 reduziert. Das Durchschnittsalter der Süchtigen steigt ständig: von 26,4 im Jahr 1981 auf 32,3 Jahre in 1990. Während 1981 noch 14,4 Prozent der Junkies unter 22 Jahre waren, sind es heute etwa 5 Prozent. Auch die Zahl der Drogentoten, die in Deutschland dramatisch ansteigt, ging in den Niederlanden erheblich zurück.
Weiche Drogen wie Haschisch und Marihuana, obgleich auch in Holland formal immer noch verboten, können im ganzen Land in 1.365 Coffeeshops ungehindert gekauft und konsumiert werden. „Unsere Polizei“, so beschreibt der Amsterdamer Drogenbeauftragte Paul Vasseur die dahinterstehende Philosophie, „interessiert sich für die Drogenkonsumenten so lange nicht, wie sie andere nicht bedrohen, bestehlen oder sonstwie belästigen“. Das gilt auch für die Konsumenten harter Drogen. Ein solche „flexible Strategie“ hält Innenminister Herbert Schnoor auch in Deutschland für unumgänglich. So weit wie die Hamburger Genossen, die im Bundesrat eine Gesetzesinitiative einbringen wollen, um künftig Heroinabhängigen ihren Stoff auf Krankenschein ausgeben zu können, möchten die Düsseldorfer derzeit aber noch nicht gehen. Schnoor hält den Vorschlag zwar für „bedenkenswert“, aber für nicht durchsetzbar. Wenn man die Fahne des Fortschritts schwinge, so der Innenminister, müsse „man sich gelegentlich auch mal umschauen, ob einem noch jemand folgt“. Schnoor wäre vorerst schon zufrieden, wenn es gelänge, den niederländischen Weg, der die staatliche Vergabe von Heroin auch nicht umfaßt, einzuschlagen.
Bisher blockt die Bonner Koalition, deren Gesundheitsministerin die kontrollierte Heroinvergabe sogleich als „drogenpolitischen Wahnsinn“ bezeichnet hat, auch noch die kleinsten Veränderungen ab. Seitdem die CSU-Fundamentalistin Gerda Hasselfeldt in Bonn am Ruder ist, geht überhaupt nichts mehr. Die Auswirkungen spürt Ingeborg Schlusemann, die Leiterin von Amoc, auch in Amsterdam. Während die niederländische Regierung die versprochenen 150.00 DM für den „Nachtauffang“ längst ausgezahlt hat, ist von den aus Bonn noch unter der Süßmuth-Ägide zugesagten 450.000 Mark nichts eingetroffen. Mitte des Jahres muß der „Nachtauffang“ deshalb zumachen— mit katastrophalen Folgen für Menschen wie Thomas. „Wenn Thomas da nicht rechtzeitig untergebracht worden wäre“, so sagt die seit 11 Jahren in Amsterdam tätige Ingeborg Schlusemann, „hätte man sein Bein amputiert“.
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