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Die Wirklichkeit

Kannst du schlafen, Lächelnde, noch immer?

Willst an meiner Brust der Zeit entfliehen?

Siehst du nicht des Nachts im kalten Schimmer

Meereswellen voll von Toten ziehen?

Siehst du Feuer nicht vom Himmel regnen?

Leugnest du den Schrei gequälter Brust?

Muß dir tausendfach der Tod begegnen,

Ehe du der Wirklichkeit bewußt?

Laß mich ruhen, Liebster, laß mich bleiben.

Selber muß ich mit den Wellen treiben.

Selber muß ich brennen, kommt die Zeit.

Heute nur mit jedem meiner Sinne

Werd ich tiefer deines Wesens inne.

Dieses ist die Wirklichkeit.

Marie Luise Kaschnitz, aus: Gerhard Kaiser. Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. Suhrkamp Verlag

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