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Major nabelt sich von Thatcher ab

Britischer Premierminister trennt sich von vielen Ministern aus der Thatcher-Ära/ IRA-Bomben in London töten drei Menschen und verletzen mehr als neunzig/ Labour-Chef Neil Kinnock will zurücktreten  ■ Von Ralf Sotscheck

Mit seinem neuen Kabinett entledigte sich John Major der alten Garde Maggie Thatchers. Einen Tag nach seinem Sieg bei den britischen Unterhauswahlen stellte der britische Premierminister gestern seine neue 22köpfige Regierung vor. Am Vorabend hatten die zwei bisher schwersten Bombenanschläge der IRA die britische Hauptstadt erschüttert.

Erstmals berief Major zwei Frauen in das bisher als „Männerkabinett“ verschriene Gremium. Prominenteste Opfer der Regierungsumbildung wurden der bisherige Verteidigungsminister Tom King sowie Innenminister Kenneth Baker, beide enge Vertraute Thatchers.

Neuer Verteidigungsminister wird der 46jährige Schotte und ehemalige Verkehrsminister Malcolm Rifkind. Das Innenministerium übernimmt der 51jährige Kenneth Clarke, der in der letzten Regierung für das Bildungswesen zuständig war. Neu im Kabinett ist die 44jährige Gesundheitsministerin Virginia Bottomley. Die zweite Frau, die 52jährige Gillian Sheppard, war bislang Staatssekretärin im Finanzministerium und wird künftig das Arbeitsministerium leiten. Außenminister bleibt der 62jährige Douglas Hurd, und auch Finanzminister Norman Lamont behält sein Amt. Im neuen Kabinett vertreten ist auch Ex- Umweltminister Michael Heseltine, der vor 16 Monaten mit seiner Kampfansage an Margaret Thatcher die Wahl von Major zum Premierminister erst möglich gemacht hatte. Er übernimmt jetzt das Ministerium für Industrie und Handel. Neuer Landwirtschaftsminister wird John Gummer. Der bisherige Nordirland-Minister Peter Brooke muß sein Amt an Patrick Mayhew abgeben, der als langjähriger Generalstaatsanwalt die Irisch-Republikanische Armee (IRA) scharf bekämpft hat.

Wahlverlierer Neil Kinnock will als Labour-Vorsitzender zurücktreten. Als Favorit für seine Nachfolge wird John Smith gehandelt, der im Labour-Schattenkabinett als Finanzminister agierte. Gewählt wird Smith voraussichtlich Ende Juni auf einem Sonderparteitag.

Während die Torys am Freitag ihren Sieg feierten, erschütterte ein IRA-Bombenanschlag das Londoner Regierungsviertel. Dabei wurden drei Menschen getötet, darunter ein 15jähriges Mädchen. Über neunzig Personen wurden verletzt, 14 davon schwer. Ein Mitglied der Irisch-Republikanischen Armee hatte kurz vor 21 Uhr bei der britischen Eisenbahn eine Warnung durchgegeben. Der Mann, der mit irischem Akzent sprach, hatte ein der Polizei bekanntes IRA-Codewort benutzt. 20 Minuten später ging die Bombe in der Nähe des Bahnhofs Liverpool Street hoch — mitten im Wahlkreis des bisherigen Nordirland-Ministers Brooke. Gebäude im Umkreis von mehreren Kilometern wurden beschädigt. Die Bombe bestand aus rund 50 Kilo des tschechoslowakischen Sprengstoffes Sempex und war damit etwa zwanzigmal so groß wie „normale“ Bomben der IRA.

„Es war plötzlich taghell“, sagte David Kearny, ein Augenzeuge. „Dann regnete es Glas. Ganze Fensterrahmen und Computer flogen durch die Luft. In dem dichten Rauch konnte man jedoch kaum etwas erkennen.“ Der Kommandant der Antiterrorismuseinheit von Scotland Yard, George Churchill-Coleman, sagte später, die Warnung sei irreführend gewesen. Der Anrufer habe behauptet, daß der Sprengsatz vor der 500 Meter entfernten Londoner Börse gelegt worden sei. „Wenn die IRA ihre mörderischen Verbrechen verübt, macht sie immer irreführende Angaben, damit die Polizei die Bombe nicht rechtzeitig findet“, sagte Churchill-Coleman.

Knapp vier Stunden später explodierte eine zweite, ähnlich dimensionierte Autobombe in Cricklewood im Nordwesten Londons. Diesmal hatte die IRA die Warnung 50 Minuten zuvor an die Telefongesellschaft im nordirischen Portadown durchgegeben. Die Gegend konnte geräumt werden, so daß es lediglich Sachschaden gab und der Verkehr am Samstag lahmgelegt wurde. Der Vorsitzende der Liberalen Demokraten, Paddy Ashdown, sagte am Samstag: „Das ist die Antwort der IRA auf das Wahlergebnis. Die IRA hat wohl geglaubt, daß sich bei einem Labour-Wahlsieg die britische Nordirland-Politik ändern würde. Das ist ein Irrtum. Darin sind sich die drei großen Parteien einig.“ Kevin McNamara, Nordirland-Experte der Labour Party, fügte hinzu: „Nachdem die IRA bei den Wahlen gescheitert ist, greift sie wieder zur Bombe. Es wird ihr weder durch das eine noch das andere gelingen, unsere Demokratie zu unterminieren.“

Die IRA hatte bereits im März angekündigt, daß sie den britischen Wahlkampf durch Bombenanschläge stören werde, was jedoch ausblieb. Nachdem Sinn-Fein-Präsident Gerry Adams vom politischen Flügel der IRA bei den Wahlen seinen Sitz, den er nie eingenommen hatte, an die gemäßigten nordirischen Sozialdemokraten verlor, spekulierten britische und irische Zeitungen in ihren Freitagausgaben, daß die IRA nun ihre Kampagne in Großbritannien intensivieren werde. Joe Hendron, der Adams im Wahlkreis West-Belfast mit Hilfe protestantisch-unionistischer Stimmen knapp überflügelt hatte, sagte am Samstag: „Die Terroristen können nur besiegt werden, wenn sie keine Unterstützung in der Bevölkerung mehr finden. Dieser Prozeß hat begonnen, wie mein Wahlsieg über Gerry Adams beweist.“ Scotland Yard prophezeite, daß die IRA-Anschläge vom Wochenende lediglich der Auftakt für die größte Bombenkampagne seit den siebziger Jahren waren. Kommentar Seite 12

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