WIR LASSEN HÖREN: Die letzte Volksmusik
■ Enthemmte Fußball-Chöre beleben den Dancefloor
Fußball und Rockmusik bilden heute zwei Hauptsäulen der modernen Unterhaltungsindustrie: Nur ein Rockkonzert setzt beim Zuschauer ähnliche Energien frei wie ein Fußballspiel. Doch für Menschen, die sich mit der zunehmenden uniformierten Grauheit des europäischen Lebens abgefunden haben, wirkt eine solche Begeisterung wie ein Bedrohung. Politiker, Polizei und Journalisten brandmarkten potentielle Ekstatiker und verleumden sie aufs übelste. Dabei verdrängen Offizielle wie Reporter die Sehnsüchte der eigenen Jugend.
„Sitzen ist für'n Arsch“ — sowohl bei Rockonzerten wie auch beim Fußball. Bei beiden geht der Trend hin zur Abschaffung der Steh- und Tanzplätze. Dabei sind es doch gerade die Stehplatzfanatiker, die für die richtige Atmosphäre in den Stadien sorgen, von denen letztendlich auch die TV-Couchpotatos zehren.
In Wirklichkeit sind die Kurvengesänge heute die einzig lebende Volksmusik. Niemand weiß die Namen der Komponisten und Texter, doch plötzlich stimmen Tausende mit ein. Und die Gema guckt dumm aus der Wäsche. Wo findet man in unserer Gesellschaft sonst noch solch spontane Chöre, deren tausendfache Stimmen ein wahres Kontrastprogramm zu den Nationalhymnen der Ewiggestrigen sind?
Der britische Supermixer Adrian Sherwood hat nun diverse Fußballchöre in den Stadien aufgenommen und daheim im Studio mit Reportagefetzen („Beautiful running by Daglish! Daglish. Daglish! Sharp as a needle!“) und satten Grooves der „Barmy Army“ zu einer Soundcollage gemischt, die jeden Dancefloor belebt. Sehr basslastig, sehr tanzbar — eine akustische Fußballzelebration. Die „Barmy Army“ levitiert die Chöre auf eine höhere Ebene, ohne dabei ihren Ursprung, nämlich die Fußballatmosphäre zu verlieren.
Deutsche Medien haben verpennt zu bemerken, daß die englische Hooliganszene in den vergangenen Jahren mutiert ist. Vom allwöchentlichen Massenprügeln ist man abgekommen, statt dessen wird in vielen Kurven geraved. Statt sich mit Alkohol zuzudröhnen, haben die Kids Psychedelika entdeckt und kiffen sich die Hucke voll. Und singen. Und tanzen. Ob dies nur eine vorübergehende Zeiterscheinung bleiben wird, läßt sich jetzt noch nicht sagen. The English Desease heißt die CD der „Barmy Army“. Sie zeigt nicht nur, daß die Fankultur im Fußball nicht immer dumpf sein muß, sondern daß Fußball und Rockmusik in der Tat wie Geschwister zueinander passen. Werner Pieper
Barmy Army: The English Desease. On-U Sound CD 8, in gut sortierten Plattenläden oder per Post durch Medienexperimente, Alte Schmiede, D-6941 Löhrbach.
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