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MEHR ALS 200 TOTE BEI GASEXPLOSION IM MEXIKANISCHEN GUADALAJARA

Gasgeruch ließ Behörden kalt

Guadalajara (afp/ap/taz) — Wie nach einem Bombenangriff sehen die Straßen von Guadalajaras Stadtviertel Analco aus, das am Mittwoch von einer Serie von Gasexplosionen in der Kanalisation heimgesucht wurde. Mindestens 200 Menschen starben bei der Katastrophe, Hunderte wurden verletzt. Über 1.000 Häuser sollen zerstört worden und 15.000 Menschen obdachlos geworden sein. Gouverneur Guillermo Cosio Vidaurri ordnete an, Obdachlose erst mal in Sportstadien unterzubringen. In der Calle de Gante ist die Asphaltdecke auf einer Länge von 15 Häuserblocks zwei bis vier Meter abgesackt. Insgesamt rissen die Explosionen einen mehrere Kilometer langen Graben von bis zu sechs Metern Tiefe und drei Metern Breite.

Die Regierung in Mexiko-City teilte mit, sie habe den Notstand ausgerufen und bereits Truppen in die Stadt geschickt, die die öffentliche Ordnung aufrechterhalten sollen. Außerdem hätten Giftmüllexperten Ermittlungen über die Unglücksursache aufgenommen.

Die Behörden erklären, daß die Abwässer einer Speiseölfabrik für die Detonationen verantwortlich seien. Diese habe Hexan, einen Kohlenwasserstoff, der bei der Gewinnung des Öls aus Samen verwendet wird, in die Kanalisation eingeleitet. Hexan ist eine farblose, nicht wasserlösliche Flüssigkeit, die aus Erdöl gewonnen wird. Sein Dampf ist hochexplosiv, vor allem dann, wenn es mit Sauerstoff vermischt wird. Der Geschäftsführer der Speiseölfabrik „La Central“, Jose Morales, wies die Vorwürfe zurück. Er sagte, die Abwasserleitungen der Firma seien gar nicht an die städtische Kanalisation angeschlossen. „Wir lassen uns nicht zum Sündenbock abstempeln“, fügte er hinzu. In Guadalajara kursieren jedoch auch Gerüchte, wonach eine Pipeline der staatlichen Petroleos Mexicanas (Pemex), die durch Analco läuft, schuld an dem Unglück sei. Pemex hat dies zwar inzwischen offiziell dementiert. Feuerwehrchef Jose Trinidad Lopez Rivas sagte jedoch, die Katastrophe gehe auf „Tausende Liter von Benzin“ zurück, die in das unterirdische Kanalisationsnetz Guadalajaras gelangt seien.

Die ersten neun Explosionen ereigneten sich gegen 10.30 Uhr Ortszeit (18.30 Uhr MEZ) in dem Arbeiterviertel La Reforma. Am Abend wurden weitere Detonationen gemeldet, und auch am gestrigen Donnerstag wollten die Behörden noch keine Entwarnung geben. Das Viertel lag fast vollständig in Schutt und Asche. Nach Augenzeugenberichten flogen als erstes die Kanaldeckel durch die Luft, bevor die Druckwelle mit ganzer Wucht wirksam wurde. Die Explosionsserie setzte sich wegen des Gases unterirdisch fort. „Die Asphaltdecke begann sich zu wellen, das sah aus wie Meereswellen, dann lösten sich einzelne Stücke und verwandelten sich in Geschosse. Ein Kanaldeckel, der über hundert Kilo wiegt, wurde 25 Meter durch die Luft geschleudert“, berichtet Salvador Soto, ein Bewohner Analcos, der den Beginn der Katastrophe miterlebte.

Außer Analco, das am schwersten betroffen wurde, sind auch Schäden in den Vierteln Olimpica und Tlaquepaque entstanden. In der Calle de Gante wurden zahllose Autos unter Tonnen von Schutt begraben. Da auch in den Häusern noch Verschüttete vermutet werden, wird es einige Zeit dauern, bis die genaue Zahl der Opfer feststeht. „Hier haben wir vor einer Stunde den Mechaniker Pancho ausgegraben, und da hinten konnten fünf Personen, darunter ein Kind, befreit werden. Noch sind nicht alle zusammengestürzten Häuser durchsucht worden, wer weiß, wie viele da noch begraben sind“, erzählt Guillermo Leon, ein Händler, der den Rettungsmannschaften hilft. Mit bloßen Händen gruben Menschen in dem Geröll auf der Suche nach verschütteten Angehörigen. Viele der Überlebenden standen unter schwerem Schock und bewegten sich ziellos in der Trümmerlandschaft.

Genau beschreiben können die Bewohner Analcos den Geruch nicht, der bereits seit Sonntag in den Straßen und sogar innerhalb der eigenen vier Wände bemerkt wurde. Die Behörden seien darüber informiert gewesen. „20 Minuten vor der ersten Explosion kam die Feuerwehr und sagte, daß keine Gefahr bestehe. Dann war sie auch schon wieder weg“, sagt Miguel Rodriguez, ein Vertreter.

„Es gab drei Explosionen hintereinander, die sehr stark waren. Dann waren Angst- und Schmerzensschreie zu hören. Die Leute liefen in den Straßen rum, als ob sie den Verstand verloren hätten, und weinten. Später dann haben sie reagiert und begannen zu helfen“, sagt Marta Mendez auf der Schwelle ihres zerstörten Hauses. Getroffen hat das Unglück wieder einmal die unteren Schichten. Die Bewohner Analcos gehören zu den niedrigen Einkommensklassen. Die Regierung sei schuld, „weil sie sich um nichts kümmert“, versichert Mendez, und: „Die Abwässer haben seit Sonntag gestunken. Gestern kamen Techniker der Wasserkommission und sagten, daß keine Gefahr bestehe.“

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