: Reste der Großen Erzählung
Über Negt & Kluge, anläßlich ihres dritten Buches ■ Von Michael Rutschky
Das Volk der Leser velangt seit geraumer Zeit nach einem neuen Buch von Alexander Kluge. Das Verlangen läßt nicht nach; es schwindet aber die Hoffnung. Dabei weiß das Volk der Leser genau — vielleicht allzu genau — wie dieses Buch auszusehen hätte: Es müßte die Fortsetzung des unglaublich dicken Buches sein, das 1977 bei Suhrkamp erschienen war und zum Titel hatte: Neue Geschichten. Hefte 1-18. „Unheimlichkeit der Zeit“.
Was will das Volk der Leser von Kluge? „Lesen, schleichen, Haare kämmen, beobachten, wissenschaftlich untersuchen, etwas wollen, sich entschuldigen, Schärfe nicht vermeiden“ (wie es in dem Stück Schwachstellenforschung nach Dr. sc. nat. Beate G. heißt): Genau das will es.
Das Buch, das Kluge jetzt wieder gemeinsam mit Oskar Negt veröffentlicht hat, knüpft dagegen an das erste der beiden an, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit (Suhrkamp 1972), das seinerzeit ebenso ein Hit war — ich trug es vom Buchhändler wie einen Schatz nach Hause —; das kryptisch, durch die Angabe von Geburts- und Todesdatum, Theodor W. Adorno gewidmet war; worin Sätze sich fanden wie diese, die wir damals dringend brauchten: „In Wahrheit ist die Phantasie ein spezifisches Produktionsmittel, das für einen Arbeitsvorgang gebraucht wird, den das kapitalistische Verwertungsinteresse nicht ins Auge faßt: die Veränderung der Beziehungen der Menschen untereinander, zur Natur und die Wiederaneignung der in der Geschichte gebundenen toten Arbeit der Menschen.“
Die siebziger Jahre waren bekanntlich eine schreckliche Zeit. An der Universität, wo ich mein Geld zu verdienen begonnen hatte, führten Germanisten den Leninismus wieder auf, was noch zu ertragen gewesen wäre, hätte nicht der staatliche Apparat von sich aus Helmut Lethen und seinesgleichen als Lenin redivivus apperzipiert, die zum Sturm aufs Kanzleramt ansetzten. Und hinter den Bergen die RAF, die mit ihrer Märtyrer-Dramaturgie — wofür Blut fließt, das ist wahr — den ohnedies existenzialistisch gestimmten Jungmenschen in Bann schlug: Nein, da waren wir froh, daß Negt mit Kluge die schwere Maschinerie der marxistischen Begriffe wieder in Bewegung setzte. Ich muß außerdem verraten, daß ich noch Ende der sechziger Jahre als Jungakademiker selbst das Jungproletariat zu revolutionieren versuchte, in freien Bildungsstätten und „Jugendhöfen“, wobei uns weniger Lenin als Negts Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen · Zur Theorie der Arbeiterbildung gute Dienste leistete (Mein Exemplar ist die sechste, völlig überarbeitete Neuauflage 1971). Das ist die (unterdessen veraltete) Neue Linke at her very best gewesen.
Inzwischen ist das schwer vorzustellen, aber 1972 herrschte in unseren Kreisen, RAF hin, K-Gruppen her, doch durchdringend der feste Glaube, im wesentlichen arbeite die Marxsche Maschinerie präzise und erfolgreich; ihre Kritiker haben keine guten Gründe für die Kritik an Marx, sondern sind einfach seine Gegner, die man als solche bekämpfen muß. Ich erkenne darin die Tradition der Frankfurter Schule, die sich, wie Jürgen Habermas in einer jetzt erst recht lesenswerten Studie zum Marxismus als Kritik schon 1960 bemerkt hat, einer „verschwiegenen Orthodoxie“ befleißigte, gerade in den ästhetischen Reflexionen Adornos, so weit entfernt von der Kritik der politischen Ökonomie: „Je weniger diese zur Sprache kommt, um so ungreifbarer kann ihr Kanon stillschweigend unterstellt werden. Eben die Ungreifbarkeit der Unterstellung läßt freilich, je länger je mehr, daran zweifeln, ob es sie überhaupt noch gibt.“ (In Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Luchterhand 1963). In den siebziger Jahren haben wir die Verschwiegenheit aufgehoben und die Orthodoxie explizit gemacht — bloß war die Kritik der politischen Ökonomie durch Marx eine Glaubenssache geworden.
In dem neuen, dem dritten Buch von Negt & Kluge — das eigentlich aus fünfzehn Einzelstücken besteht, die sie, wie durch die Initialen angezeigt wird, teils einzeln, teils gemeinsam verfaßt haben — verfährt vor allem das fünfte Stück marxistisch, Der durch das Kapital geschaffene realitätsmächtige, aber falsche Gesamtarbeiter. Auch dies ist die traditionelle Lesart der Frankfurter Schule: Was Kant als Transzendentalsubjekt konzipierte und Hegel als absoluten Geist, das können wir mit Marx als die Menschheit begreifen, die sich durch Arbeit selbst erzeugt, aber, unter der Herrschaft des Kapitals, noch entfremdet, von Widersprüchen zerrissen, ohne Souveränität. „Wie Spuren einer Gesamtarbeit, die nicht unter dem Kommando des Kapitals steht, vorzustellen sind, zeigt die Sprache. Sie kann zwar, unter anderem, selbst Warencharakter annehmen, aber das Kapital kann sie nicht erzeugen... Als ihren Kontrapunkt kann man das Liebesvermögen, die Ungerechtigkeit der Anziehungs- und Abstoßungskräfte nennen, aus denen wiederum Stoff für den Gerechtigkeitssinn entsteht. Die Erkenntnismotive, vom Kapital aufgegriffen, aber ebenfalls nicht von ihm allein erzeugbar, haben ihre Wurzeln in mehreren dieser alternativen Kommandogewalten...“ Keine Frage, daß wir hier auch die Phantasie einzutragen haben, die, laut Öffentlichkeit und Erfahrung, auf das Insgesamt der menschlichen Beziehungen sich richtet, also den Gesamtarbeiter, aber vom herrschenden Kapitalinteresse ausgeschlossen wird.
Dieser Gesamtarbeiter, wie er sich bislang aus den einzelnen Arbeitsvermögen, welche die Menschheit in ihrer Geschichte entwickelte, nicht hat bilden können, ist Gegenstand des teils schweren, teils ungemein heiteren Grübelns in dem zweiten der Bücher von Negt & Kluge gewesen, Geschichte und Eigensinn (Zweitausendeins 1981). Ein Band von knapp 1.300 Seiten, der Text durchsetzt von Bildern, deren Unterschriften den Eindruck des Überirdisch-Wundersamen noch steigerten: „Der Fotograf auf der Jagd nach nichtkriegerischen Motiven. Er duchfährt die Wüste. Irgendwann will er, den Dunkelkammerwagen hinter sich herziehend, auf Menschen treffen.“ Der dicke Packen rosafarbenen Papiers in dunkelblaues Leinen gebunden, die Titelei römische Majuskeln, Goldprägedruck: Wurden die Pathosformeln des Klassischen wirklich in Anspruch genommen („von Marx & Engels über Horkheimer & Adorno zu Negt & Kluge“) oder handelte es sich gleichzeitig (und unentwirrbar) um die Parodie darauf? Offensichtlich setzte sich das schwere (Negt) bzw. heitere (Kluge) Grübeln zu keiner Gesamtarbeit zusammen, bildete keine durchlaufende Maschinerie; man durfte sich in dem Buch auch wie in einem Spielzimmer umtun, voll des wild gebastelten Zeugs.
Dies jedenfalls ist der theoretische Grundzug aller drei Bücher: Die Krisen und die Kritikwürdigkeit des Kapitalismus entstehen nicht vor allem aus der Verwertungslogik des Kapitals und den Klassenkämpfen zwischen Proletariat und Bourgeoisie, sondern aus der falschen Synthese der menschlichen Arbeit, in welcher sich die Menschheit als Subjekt ihrer Geschichte noch nicht hat bilden können („Entfremdung“). Mit diesem Zugriff suchten Negt & Kluge schon in Öffentlichkeit und Erfahrung einen der Glaubenskämpfe zu neutralisieren, der in den siebziger Jahren unter uns orthodoxen Marxisten tobte, ob man nämlich mit Marx einen einheitlichen Begriff von Arbeit und Produktion festhalten sollte — in den sich auch Marx' eigene theoretische Arbeit und Politik, die Hervorbringung des Sozialismus einfügte —, oder mit Jürgen Habermas Marx kritisieren und zwischen Arbeit und Interaktion, technisch- instrumentellem und kommunikativem Handeln unterscheiden müsse...
Ich habe weder Geschichte und Eigensinn noch Öffentlichkeit und Erfahrung von Anfang bis Ende durchgelesen. Damit bin ich bei den Problemen, die uns inzwischen schärfer quälen als jene scholastischen. Ob nämlich eine solche Große Erzählung, die der Menschheit in einem unendlichen Dicken Buch vorführt, wie sie eigentlich werden sollte, überhaupt möglich ist. Wer spricht? Und von wo aus? In Öffentlichkeit und Erfahrung, wo das Betriebsverfassungsgesetz ebenso streng durchgearbeitet wird wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen und Freuds Psychoanalyse, schien alles klar: Es spricht der kritische Theoretiker, von dem Standpunkt aus, den er sich theoretisch erarbeitet hat (was auch immer das sei), als Statthalter des noch inexistenten Gesamtarbeiters (Der Artist als Statthalter heißt ein bedeutender Essay Adornos von 1953).
Geschichte und Eigensinn spielt schon mit dem Gedanken, die große Erzählung sei vielleicht nur als Parodie des Dicken Buchs möglich. Denn wer garantiert, um statt Foucault oder gar Lyotard den anhaltend mit dem Konzept des Klassenkampfs operierenden Pierre Bourdieu zu bemühen, daß der große Theoretiker nicht bloß als akademisch ausgebildeter Angehöriger der Mittelklassen spricht, der an gewissen Machtchancen interessiert ist, die sich aus seinen Anteilen am symbolischen und kulturellen Kapital ergeben, wenn er sie investiert? Die kommunistischen Parteien sind auch als Machtkartelle der Intelligentsia zusammengebrochen; das Politbüro, gar der Generalsekretär, konnte den Großen Theoretiker nicht geben, ihm mißlangen schon die einfachsten Entscheidungen. Daß die Dissidenten und Bürgerrechtler, wie das deutsche Beispiel lehrt, die den Parteiintellektuellen so lange bekämpft haben, jetzt über die Kontrolle der Stasi-Akten Machtchancen in Gestalt einer Inquisition, der Ausforschung von Gesinnung und Gewissen erstreben, macht an der Möglichkeit von Lernprozessen gründlich zweifeln. Negt suchte Einfluß auf die Gewerkschaftspolitik zu gewinnen; Kluge widmet sich vor allem seiner Fernseharbeit — Bohley, Klier und KonsortInnen regredieren hingegen gleich auf das religiöse Vorbild. Wie halt überhaupt der Sozialismus — also inklusive seiner inneren Feinde — in die Religionsgeschichte einrückt...
Aber vielleicht gehe ich komplett in die Irre. Zurück zum dritten Buch von Negt & Kluge. Es will, wie gesagt, auf eine einheitliche Perspektive von vornherein verzichten, das Unterscheidungsvermögen kräftigen. Das erste, titelgebende Stück, von O.N. und A.K. gemeinsam verfaßt, will gerade die überwältigende Vereinheitlichung der Kräfte und Ereignisse als Störung der „Maßverhältnisse“, als Krisensymptom des Politischen bestimmen. „Kein Weg führt zur Omnipotenz.“ Auch Tschernobyl und vergleichbare Katastrophen werden den einheitlichen Willen der Menschheit nicht stiften. Im Gegenteil, sie stürzen die Maßverhältnisse zwischen den Ereignismassen und unseren Verarbeitungskategorien um. „Das ist der Grund, warum der revolutionäre Prozeß in der Novemberrevolution 1918 ebenso wie in der Novemberrevolution 1989 das Weihnachtsfest nicht übersteht“ — das ist eine dieser Pointen, in denen ich die freundlich-eifrige Stimme Alexander Kluges zu hören meine, die wir als Erzählerstimme aus dem Off seiner Filme kennen. Dies ist das heitere Grübeln.
Das schwere führt immer wieder Negt vor, in dem Stück Karl Marx im Jahre 1991 · Wie es um sein Bürgerrecht in der wissenschaftlichen Kultur bestellt ist beispielsweise. Es lohnt die Lektüre — auch wenn die Pointe eigentlich ausbleibt. Vielleicht sind positive Bestimmungen — was wir Marx anhaltend verdanken, trotz allem — zur Zeit völlig unfruchtbar. Die Tapferkeit, mit der Michael Brie beispielsweise nicht erst den DDR-Staatssozialismus, sondern schon den für die marxistische Tradition seit Georg Lukacs so zentralen Begriff der „Entfremdung“ attackiert hat — Marxismus und administrativer Sozialismus, 'Das Argument‘ 188 — belehrt mich über die Chancen der kritischen Exegese weit gründlicher. Denn dies bleibt der Rahmen der Auseinandersetzung, die Lektüre kanonischer Texte. Wie sie zum Lesen des Textes wirklicher Verhältnisse beiträgt — gerade jetzt beitragen kann —, bleibt dunkel, vom Destillieren elementarer Glaubenssätze — dies Wort von Marx sie sollen lassen stahn — verspreche ich mir jedenfalls gar nichts.
Im dritten Buch von Negt & Kluge fehlen Bilder ganz und gar (die uns in den anderen so oft auf die wirklich guten Gedanken brachten). Dafür schmückt den Umschlag ein hochelegantes Blatt von El Lissitzky. Auf weißem Grund ein weißes Quadrat, nur durch eine schwarze Linie markiert; darin, gut eingepaßt in die linke obere Ecke, ein schwarzes Quadrat; und darunter, auf irgendeine unsichbare Diagonale bezogen, ein rotes. Auch findet sich eine schriftliche Mitteilung auf dem Blatt. Ich kann sie aber nicht lesen, sie ist russisch.
Oskar Negt/Alexander Kluge: Maßverhältnisse des Politischen · 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen. S. Fischer Verlag, Frankfurt. 280 Seiten, gebunden, 36 Mark.
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