: Ein Skandal wird seziert
■ Ein Buch über den Streit um Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“
Ein halbes Jahrzehnt nachdem sie 1985/86 mit der Besetzung des Frankfurter Schauspielhauses ihren Höhepunkt erreicht hatte, veröffentlicht der Dissertationsverlag Peter Lang eine Studie des Bielefelder Literaturwissenschaftlers Janusz Bodek zur Kontroverse um das Stück Der Müll, die Stadt und der Tod. Der Rückblick auf den Skandal, den das Fassbinder-Stück auslöste, erscheint heute fast wie die Generalprobe vieler folgender Debatten. Die Mutter aller Schlachten um Golfkrieg, Stasi und Akademievereinigung. Hier war sie zum ersten Mal symptomatisch geworden, die Orientierungslosigkeit, in die westdeutsche Intellektuellen gerieten, als sich Werte, die zur Grundausstattung eines progressiven Selbstgefühls gehörten, als schiere Ideologie entpuppten. Als Denkraster der Nachkriegszeit zu bröckeln begannen, die vielen das Denken längst abgenommen hatten und die auch Fassbinder mit seiner Geschichte vom „reichen Juden“, der sich durch Grundstücksspekulation an „den Deutschen“ rächen will, um die „Städte unbewohnbar wie den Mond“ zu machen, anzutasten versuchte. Die Frage ist müßig, ob dieser Versuch andere Früchte getragen hätte, wenn Fassbinder ein besserer Schriftsteller gewesen wäre. Wilfried Wiegands Diktum aus der Anfangsphase der Auseinandersetzung gilt nach wie vor: „In Deutschland mißverständlich über Juden schreiben — das heißt schlecht schreiben.“
Die Sprengkraft des Fassbinder- Textes bestand in einem Tabubruch. Ein Tabubruch jedoch, so Bodeks These und Vorwurf, dem niemand, der an der Verbreitung oder Aufführung des Stückes beteiligt war, je ein redliches Interesse entgegengebracht hat. Statt dessen habe jeder versucht, das Skandalon für eigene Zwecke zu mißbrauchen. Angefangen bei Fassbinder selbst, der das Stück schon auf einen Eklat hin geschrieben habe, um aus dem ihm lästig gewordenen Intendanten-Vertrag am TaT in Frankfurt herauszukommen. Ohne Konventionalstrafe und ohne daß sein Versagen dort offensichtlich geworden wäre. Die Kollision von zwei verfassungsmäßig geschützten Grundrechten — die Freiheit der Kunst und die Unantastbarkeit der Menschenwürde — habe dabei für jeden, der an der Inszenierung des Skandals in seinen verschiedenen Phasen beteiligt war, zum Kalkül gehört. Motor des Kalküls sei ein lupenreiner Antisemitismus gewesen, der sich der ältesten und perfidesten Klischees bediente.
So landete der Skandal auf dem Seziertisch des Literaturwissenschaftlers. Janusz Bodek beginnt seine minutiös recherchierte Studie mit einer Darstellung des Konflikts, aus dem Fassinders Stück und der ihm zugrunde liegende Roman von Gerhard Zwerenz ihr Material bezogen hatten: der Häuserkampf um das Frankfurter Westend. Schon damals wurde der Protest gegen die Zerstörung eines intakten Wohnviertels durch Grundstücksspekulation von starken antijüdischen Ressentiments begleitet, was den tatsächlichen Sachverhalt verdunkelte. Daß nämlich das Westend vor 1933 hauptsächlich durch ein jüdisches Bürgertum geprägt war, mit dessen Vertreibung und Ermordung die Zerstörung des Viertels einmal begonnen hatte. Und daß jene Großbanken, die im Nationalsozialismus federführend bei der „Arisierung“ jüdischen Grundbesitzes waren, auch nach 1945 die Hauptprofiteure der Umstrukturierung des Westends blieben. „Man hat sich das Westend als Erweiterungsgebiet ausgesucht, weil es eine Anzahl von Gebäuden gab, deren Eigentümer umgebracht worden waren oder in Amerika lebten“, zitiert Bodek den ehemaligen Frankfurter Oberbürgermeister Arndt. Daß es dennoch Juden waren, die ins Zentrum des Protests einer, dem eigenen Verständnis nach, antifaschistischen Nachkriegsgeneration rückten, hat für Bodek mit einem unverarbeiteten Bedürfnis nach Schuldentlastung zu tun. Nährboden für einen „Antisemitismus wegen Auschwitz“, der auch in den Texten von Zwerenz und Fassbinder eine zentrale Rolle spielte.
Die Akribie, mit der Bodek seine Beweisaufnahme führt, ist beeindruckend. Es ist schwer, sich ihrer Logik zu entziehen. Doch immer häufiger stolpert man über die Schlüsse, die Bodek aus seiner Pathologie des Falles zieht. So wenn die Aufführung von Joshua Sobols Ghetto durch Peter Zadek zur Disposition gestellt wird. „Kunstwerke, die derartig instrumentalisiert sind und die Hemmschwelle beim respektvollen Umgang mit dieser sensiblen Problematik beim Publikum herabsetzen, sind nicht der alleinigen Urteilskompetenz der Künstler bzw. ihrem Verständnis von Kunstfreiheit zu überlassen.“
An solchen Stellen verkehrt sich die gute Absicht in ihr Gegenteil. Und so folgt man, je lückenloser sich der Ring der Beweisführung schließt, der Argumentation des Autors mit wachsendem Mißtrauen. Bleibt schließlich kein Argument, das zur Verteidigung des Rechts, das Stück spielen zu dürfen, vom Verdacht, antisemitisch zu sein, unbehelligt. Wird schließlich jeder, der auf der Seite seiner Befürworter steht, zum Übeltäter. Bodek legt seine Finger in manche Wunde. Doch letztlich gewinnt die Polarisierung der Debatte in Fürsprecher und Gegner des Stückes keinen wirklich neuen Aspekt.
Doch gerade Bodeks pathologischer Befund — der deutsche „Schuldabwehrantisemitismus“ — ist das Problem, für deren Lösung er es hält. Denn neben dem von ihm diagnostizierten „Antisemitismus ohne Juden“ gibt es längst auch eine „Schuld ohne Schuldige“. Und jeder, der sich mit dem Phänomen eines „Antisemitismus wegen Auschwitz“ auseinandersetzt, sollte auch die Not derer ernstnehmen, deren Problem es ist, Nachkommen von Mördern zu sein. Diese Not gehörte schon zum Klima, in dem das Müll- Stück einmal entstanden war. Hingerotzt und voller Ressentiments, gewiß. Und deshalb mit Recht anfechtbar. Wer aber, wie gut gemeint auch immer, das bestehende Denk- und Redeverbot im Verhältnis von Juden und Nichtjuden in Deutschland nicht aufzuheben versucht, bringt sich um die Möglichkeit, das Problem dieser speziell deutschen Variante des Antisemitismus nach Auschwitz anzugehen. Verkennt, daß ein Tabu manchmal jene Ungeheuer erst beschwört, vor denen es eigentlich schützen will.
Nur wo man reden kann, kann man auch handeln. Solche Fragen hat sich Bodek nicht gestellt. Leider, möchte man sagen, denn sein Thema bietet ein geradezu klassisches Anschauungsmaterial für eben das Problem, dem er so zielsicher aus dem Weg gegangen ist. Mit seiner akribischen Dokumentation der Fassbinder-Kontroversen hat er dennoch das Feld für jene bestellt, die sich diese Frage in Zukunft stellen wollen. Esther Slevogt
Janusz Bodek: Die Fassbinder- Kontroversen: Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Zu Kontinuität und Wandel einiger Erscheinungsformen des Antisemitismus in Deutschland nach 1945, seinen künstlerischen Weihen und seiner öffentlichen Inszenierung. Verlag Peter Lang, Frankfurt 1991, 79DM.
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