INTERVIEW
: „Die Unterschiede zwischen Filmstars und Armen sind zu groß“

■ Spike Lee spricht mit der taz über seinen neuen Film, die Unruhen von Los Angeles und das schwarze Bewußtsein in den USA

taz: Am Ende von „Do The Right Thing“ ließen die Zitate von Martin Luther King und MalcolmX auf zwei mögliche Filme schließen. Warum haben Sie sich für Malcolm entschieden?

Lee: Es gab nie zwei Möglichkeiten. Malcolms Leben ist für mich interessanter. Er hat interessantere Überzeugungen. Was aber nicht bedeutet, daß es keinen Film über King geben sollte.

Haben Sie „MalcolmX“ gemacht, um ihn der Jugend als Helden vorzuführen?

Das ist ein Grund. Aber viele schwarze Kids kennen Malcolm bereits durch Rap-Musik wie von Public Enemy. Vielleicht ist dieser Film das Buch, das sie noch nicht gelesen haben, weil die meisten Leute heute nichts lesen.

Meinen Sie, das sollte sich ändern?

Unbedingt. Ich glaube, viele Leute werden die Biographie lesen, nachdem sie den Film gesehen haben.

Waren Sie mit der Finanzierung des Films zufrieden?

Nein. Es ist nicht unmöglich, mich zufriedenzustellen, das ist früher schon geschehen. Aber hier nicht. Der Film hat 33 Millionen Dollar gekostet. Dan Ackroyd hat für Nothing But Trouble 45 Millionen gekriegt, und er hatte nie zuvor einen Film gedreht. MalcolmX ist ein Epos, er umspannt vier Jahrzehnte, hat 190 Drehbuchseiten und wird drei Stunden und 20 Minuten lang sein. Wir konnten nicht nur in ein paar Häuserblocks von Harlem drehen. Wir fuhren nach Ägypten und sandten ein zweites Filmteam mit muslimischen Filmemachern nach Mekka.

Durften Sie selber nach Mekka gehen?

Ich bin kein Muslim.

Hat Sie das geärgert?

Wie kann mich das ärgern? Das ist ihre Religion. Kein Nicht-Muslim darf in die Heilige Stadt. Ich kann nicht sagen: Ich kümmere mich nicht um das, was in Eurer Religion seit über tausend Jahren geschehen ist, geht zur Seite, ich will einen Film machen. Für Spike Lee können sie ihre Religion nicht ändern.

Sind Sie religiös?

Nicht wirklich. Ich wurde als Baptist erzogen. Mit organisierter Religion habe ich nichts zu tun, aber ich glaube an ein höheres Wesen.

Ihre Filme sind oft witzig. Ist „MalcolmX“ ein humorvoller Film?

Ja, sicher. Malcolm hatte einen großen Sinn für Humor. Er lachte sehr laut und liebte das Lachen. Die Medien wollten ihn als Gewalttäter und Rassisten darstellen, aber das ist nicht richtig. Dieses Bild besteht allerdings immer noch. Mein Film zeigt ihn als einen komplexen Menschen, der sich vom Bettler, Zuhälter und Dealer so weit entwickelt hat, daß er eine Kehrtwendung machen konnte. Dieser Übergang ist möglich. Und deshalb hat er ein Buch über sein Leben geschrieben. Er wollte zeigen, daß es möglich ist. Wir können uns selbst weiterentwickeln.

Sie sagen, MalcolmX war nicht gewalttätig. Was heißt dann: „Mit allen notwendigen Mitteln“?

Manche Leute meinen, das bedeute Gewalt. Ich denke, Malcolm hat von Selbstverteidigung gesprochen.

Wo liegt die Grenze zwischen Gewalt und Selbstverteidigung?

Sie ist sehr verschwommen.

Was hätte Malcolm über die Aufstände gesagt, die nach dem Rodney-King-Urteil in L.A. ausbrachen?

Er hätte das gleiche wie vor 25 Jahren gesagt: Am Rassismus hat sich nichts geändert.

Einige Schwarze haben kritisiert, daß die Aufständischen in der eigenen Nachbarschaft geplündert haben.

Am zweiten Tag sind sie in die Stadtteile der Weißen eingedrungen, und genau dann wurde die Nationalgarde gerufen. Ein Aufstand im südlichen Zentrum von Los Angeles ist okay, aber nicht in Beverly Hills. Das ist der Unterschied zu den Watts-Aufständen in den Sechzigern. Die Schwarzen sind schlauer geworden und gingen in die Vororte.

Hat es Sie überrascht, daß es keinen Aufstand in New York gab?

Die Wall Street und die meisten Geschäfte haben am Tage der Rodney-King-Demonstration früh geschlossen, weil man befürchtete, daß es zu Ausschreitungen kommen würde. Ja, ich war überrascht. Der Bürgermeister, David Dinkins, hatte viel zu tun, um die Lage ruhig zu halten. Wenn Ed Koch noch Bürgermeister gewesen wäre, dann hätte es dort bestimmt gekracht. Er war gegen einen Ausgleich der Rassen, um Stimmen zu gewinnen. Wir glauben, daß Do the Right Thing ein wenig dazu beigetragen hat, Koch abzusetzen.

Was würden Sie den Leuten empfehlen, wen sie bei der nächsten Präsidentschaftswahl wählen sollen?

Ich wünschte, ich könnte den Leuten empfehlen, jemanden zu wählen, der etwas anderes macht. Jesse Jackson wäre ein guter Präsident, aber das ist ein Wunschtraum. Amerika ist noch nicht reif für einen schwarzen Präsidenten.

Was halten Sie von Bushs Kommentar, daß die Wohlfahrtsprogramme in L.A. den Aufstand verursacht haben?

Ich glaube, Bush bedauert diese Bemerkung. Er ist deswegen sehr stark angegriffen worden. Sie ist idiotisch, und jeder weiß das. Reagans Kürzungen der Sozialprogramme sind verantwortlich für die Aufstände. Mangelnde Erziehung ist verantwortlich. Die US-Regierung gibt mehr fürs Militär als fürs Essen aus, das ist der Grund.

Werden die Ereignisse in L.A. etwas ändern?

Ich glaube, ja.

Es kann also nur eine Veränderung geben, wenn die Weißen Angst haben?

Manchmal. Beim nächsten Mal werden es sich die Bullen zweimal überlegen, ob sie jemanden 56 mal schlagen. Sie wissen jetzt, daß das Schwierigkeiten gibt. Und das bezieht sich auf jeden Bullen in den USA.

Sie sind sehr optimistisch, wenn Sie meinen, daß sich die Bedingungen für die Schwarzen ändern werden, vor allem wenn man bedenkt, daß die Unterschiede zwischen Reich und Arm in den letzten zehn Jahren noch größer geworden sind.

Diese Unterschiede müssen abgebaut werden, oder es gibt einen Bürgerkrieg. Man kann nicht den Reichtum zur Schau stellen und erwarten, daß der Rest der Leute nicht darauf reagiert. Sie sehen Filme und gucken Fernsehen und wollen ein Stück vom Kuchen abhaben. Deshalb gab es die Aufstände in L.A. — die Unterschiede zwischen den Filmstars und den Armen sind zu groß.

Wer würde diesen Bürgerkrieg gewinnen?

Beide Seiten würden verlieren.

Glauben Sie, daß der Rassismus in Europa ebenso schlimm ist?

Dazu kann ich nicht viel sagen, da ich kein Araber bin, dem der Schädel eingeschlagen wird. Aber haben Sie schon mal von Le Pen gehört? In Italien bewirbt sich die Enkelin von Mussolini um ein politisches Amt. Der Faschismus ist auf der ganzen Welt im Vormarsch. In schwierigen wirtschaftlichen Zeiten suchen die Leute nach Sündenböcken — Juden, Einwanderer. Im Moment benutzen die USA Japan als Sündenbock für ihre wirtschaftlichen Probleme. Die Japaner stellen einfach gute Waren her, und die Leute, auch Amerikaner, kaufen sie.

Die Einwanderer gehören in den USA nach einer oder zwei Generationen in der Regel zur Mittelklasse. Aber das ist kein Vorbild für die Schwarzen gewesen.

Da wird so argumentiert: Warum schaffen die Schwarzen nicht, was die Einwanderer schaffen? Die Koreaner kriegen zum Beispiel viel schneller Bankdarlehen als die meisten Schwarzen, und die Einwanderer haben nicht die Erfahrung der Sklaverei gemacht. Sie kommen mit intakter Sprache, Familie und Kultur an, während uns all das genommen wurde. Für Einwanderer ist Amerika ein Land, in dem sie aufsteigen können und wo man ihnen nicht beibringt sich selbst zu hassen. Den Schwarzen wurde eingetrichtert, daß sie der letzte Dreck sind, daß sie Dreck gewesen sind und daß sie immer der letzte Dreck bleiben werden. Ihnen wird nicht beigebracht, daß Kleopatra schwarz war, daß wir die Pyramiden gebaut haben und daß wir früher als alle anderen die Mathematik und die Ingenieurskunst entwickelt haben. Toussaint L'Ouverture, (der haitianische Freiheitskämpfer des frühen 19. Jahrhunderts, d.Red.) trat Napoleon in den Arsch. Hannibal trat Rom in den Arsch — deshalb gibt es so viele dunkelhäutige Italiener.

Wenn die Schwarzen diese Geschichte kennen würden, würden wir uns besser fühlen, und eben deshalb wird sie in den Geschichtsbüchern ausgelassen. Sie wollen, daß wir glauben, daß Kleopatra so wie Elizabeth Taylor und Jesus so wie Willem Dafoe war.

Die schwarze Unterklasse ist heute noch größer als in den sechziger Jahren. Einer von vier Schwarzen ist mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen, es gibt mehr Schwarze im Gefängnis als im College. Wir haben eine höhere Rate der Kindersterblichkeit, eine höhere Rate an Hypertonikern und einen schnelleren Zuwachs an Aids- Erkrankungen.

Haben Sie einen historischen Film gemacht, um die Aussparungen in den Schulbüchern zu korrigieren?

Nicht korrigieren, sondern erweitern. Die multikulturelle Bewegung in der amerikanischen Erziehung versucht zu erweitern, was in der Schule gelehrt wird, so daß zum Beispiel die amerikanischen Ureinwohner nicht ausgelassen werden. Dieser Christoph-Kolumbus- Scheiß muß endlich aufhören. Das ganze System muß umgekrempelt werden.

Es gibt auch Einwände gegen die multikulturelle Bewegung dahingehend, daß der Lehrplan nach Qualitäts- und nicht nach Rassenkriterien entwickelt werden sollte.

Ich habe mit solchen Einwänden gerechnet. Sie geben den status quo nicht kampflos auf.

Haben Sie schon einen neuen Film geplant?

Nein. Ich mache ein Jahr Pause und helfe anderen Filmemachern bei der Produktion, jungen schwarzen Regisseuren in Übersee, die noch keinen Spielfilm gedreht haben.

Werden Sie als Schauspieler auftreten?

Ich mag die Schauspielerei nicht. Ich fühle mich dabei unwohl, aber ich spiele in meinen eigenen Filmen mit, um Kosten zu sparen. Ich glaube, ich bin ganz witzig.

Ist die Neue Schwarze Welle noch am Zunehmen?

Ich hoffe. Wenn nicht, so wäre das ein schneller Tod. Aber es gibt ein Limit des Geldes, das die Studios dafür zur Verfügung stellen, und dazu gehören auch New Line Productions.

Was spricht dagegen, daß die schwarze Mittelklasse eine größere schwarze Mittelklasse produziert, die nicht mit den Unterklassenproblemen zu kämpfen hat, von denen Sie eben gesprochen haben?

Die schwarze Mittelklasse muß sich mehr um die Leute kümmern, die sie zurückläßt — was nicht ausschließt, daß die Regierung mehr tun sollte. Manche Schwarze machen ihr Geld, haben ein Haus und werden vergeßlich. Viele von meinen Mitschülern haben das nicht so gemacht. Sie sind in den Stadtteilen der Schwarzen geblieben.

Sie haben an der „Konferenz für freies Kino“ teilgenommen.

Ich habe eine Menge gelernt. Ich habe den Jugoslawien-Krieg nicht verstanden, bis Emir Kusturica ihn mir erklärt hat.

Verstehen Sie ihn jetzt?

Nein. Das ist derartig verrückt.

Glauben Sie, daß die Jury in Cannes jemals besser ausgeglichen sein wird, was die Rassenverteilung betrifft?

Ich glaube, Whoopie Goldberg ist die einzige schwarze Person, die jemals in der Jury war. Man hat mich gefragt, ob ich dieses Jahr in die Jury wollte, aber ich konnte MalcolmX nicht zweieinhalb Wochen im Stich lassen.

Verhindert der Mangel an schwarzen Jurymitgliedern, daß schwarze Filme Preise bekommen?

Nein, aber das hier ist ein internationales Festival, und die Jury sollte das berücksichtigen.

Sie waren ziemlich sauer, als „Do the Right Thing“ hier nicht den ersten Preis gewonnen hat.

Auch wenn ich dafür getadelt werde — aber wenn es einen weißen Goldjungen wie die Coen-Brüder oder Steve Soderbergh gibt, werden sie den Goldjungen küren.

Haben Sie sich den Ring, den Sie tragen, selber gekauft oder haben Sie ihn geschenkt bekommen? (Der Ring zeigt eine schwarze Hand in einer weißen).

Ich habe ihn gekauft. Sie haben nicht gedacht, daß ich so einen Ring trage, nicht wahr?

Wieviel Zeit können Sie damit verbringen, sich mit der Rasse zu beschäftigen, wo es doch so viele andere Dinge gibt, die jeden betreffen und nichts mit der Rasse zu tun haben?

Das ist leicht zu sagen, wenn man selber in der Mehrheit ist. Ich werde jeden Tag wieder daran erinnert, daß ich schwarz bin. Wenn Sie schwarz sind und in New York einen Polizisten auf sich zukommen sehen, denken Sie sofort daran. Ich wundere mich, wenn Leute sich fragen, warum die Schwarzen wütend werden. Ich werde wütend, wenn man mir blöde Fragen stellt. Es versteht sich von selbst, warum die Schwarzen wütend sind. Dieser Aufstand sollte für niemanden eine Überraschung gewesen sein, höchstens vielleicht für diejenigen Amerikaner, deren einziger Kontakt zu Schwarzen in Bill Cosby oder Michael Jackson besteht.

Wut ist eine Frage des Temperaments. Auch David Putnam und Louis Malle werden andauernd wütend.

Aber Sie hätten David Putnam nicht gefragt, ob er den Ring selbst gekauft hätte.

Interview: Marcia Pally