: Vom Elend des Schreibens nach Noten
■ Irene Disches unveröffentlichte „Diabelli-Variationen“: Heute im Radio
“Mein Text ist ein freches Plagiat“, verspricht Irene Dische und erzählt im Bremerhavener Stadttheater, wie sie dazu kam, eine neue Erzählung an Beethovens „33 Variationen über einen Walzer von Anton Diabelli“ anzulehnen.
Vor eineinhalb Jahren also bat sie ein russischer Freund, wie sie sagte, sich um einen aus Petersburg gefüchteten jüdischen Pianisten kümmern, der jetzt in einem Ostberliner Lager sitze. Irene Dische lud Anatol Ugorski zu sich ein, setzte ihn ans Klavier und verpflichtete ihn, der seit Monaten kein Instrument unter den Fingern gehabt hatte, täglich zum Üben zu kommen. „Er spielte unter anderem die Diabelli-Variationen, die mir mit ihren Erzählbögen wie ein literarischer Text zu sein schienen. Ich wollte es mir leicht machen und eine Novelle von 34 Seiten schreiben, eine Seite je Variation.“ Der Ertrag sollte als Buch-CD bei Rowohlt erscheinen.
Anfangs, bei Diabellis Walzer- Thema, hielt sie sich auch an die selbstgestellte Aufgabe und rhythmisierte im englischen Original die Sprache als Dreivierteltakt, aber schon bei der ersten Variation — es war die einzige, die sie in Bremerhaven vorstellte — ging sie ihre eigenen seitenlangen Wege. „Ein freches Plagiat“, vielleicht aber auch nur ein genialer PR-Streich für einen bis vor kurzem völlig unbekannten Klaviervirtuosen, dem Irene Dische ins Scheinwerferlicht verhilft.
„Veränderungen über einen Deutschen“ nennt sie ihren noch unveröffentlichten Versuch. Beethovens erste Variation, „Maestoso“, inspiriert sie zur Erfindung eines Personals, das der Aristokratie angehört. In kurzen, comicartigen Zügen zeichnet sie den Entwicklung eines frühreifen Adeligen auf: Hasso Graf Waller von Wallerstein wächst in altem Burggemäuer mit einer schrecklichen Großmutter auf, „ist schlank und regelmäßig gebaut wie eine Vitrine“, bekennt sich mit zwölf zum Sozialismus, an dem er wenig später jedes Interesse verliert, hat eine intensive Schwesterbeziehung und ist „unfähig, mit einer Frau zu schlafen“.
Irene Disches erste Variation wirkt sehr kraftlos: eine Aneinanderreihung gelegentlich komischer, gelegentlich ironischer Beobachtungen aus dem Leben von einem, der es „ungeheuer peinlich fand, am Leben zu sein.“
Nun ja, immerhin diente sein Leben dazu, bei der Gelegenheit Anatol Ugorski vorzustellen. Der russische Pianist spielte anschließend die Diabelli-Variationen als einen pausenlosen Energiestrom mit extrem gespannten Tempo- und Tondifferenzen: Das Publikum dankte mit Ovationen. Würde ein Filmregisseur wie Oliver Stone auf Anatol Ugorski treffen, er würde für dessen Beethoven-Interpretation enorme Bilder finden. Irene Dische sollte ein Treffen arrangieren und literarisch wieder eigene Wege gehen. Hans Happel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen