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Leben in der Nudelbar

■ An Tokios Suppentöpfen schlemmt Georg Blume

Vor einigen Jahren zeigte ein Kino am Pariser Boulevard Saint-Germain den Film eines bis dahin nur als Schauspieler bekannten japanischen Regisseurs. Er wurde in Paris zum Geheimtip. Der Film handelte von den Nudelsuppenbars in Tokio, und er hätte kein passenderes Kino finden können als jenes an dem stolzen Pariser Boulevard. Denn was die Cafés für Paris sind — nicht erst seit Jean-Luc Godard und andere in den schönsten von ihnen am Boulevard Saint-Germain die Kamera führten — das sind die Nudelsuppenbars für Tokio: Schnittstelle des flüchtigen Stadtlebens, Erholungspunkt im düsteren Alltag, letzte Bastion gegen die überwältigende Anonymität.

Der Film, der nach dem Namen einer Nudelbar Tampopo hieß und seinem Regisseur Juzo Itami das höchste Lob der internationalen Filmkritik einbrachte, hielt sich in Berlin nur eine Woche in den Kinos. Das könnte als Beweis dafür gelten, wie wenig sich die Temperamente von Deutschen und Japanern jenseits des aufgesetzten Preußentums in Japan ähneln. Denn Tampopo ist ein überschwenglicher Film mit südländischem Temperament. Er lebt vom Appetit des Feinschmeckers und von der Intensität zufälliger Begegnungen. Er lebt eben von dem, was die meisten Deutschen allenfalls den Franzosen und Italienern, doch nicht den Japanern zutrauen, was aber das Leben in Tokio so angenehm macht.

Der Nudelbars in Tokio gibt es so viele und so unterschiedliche wie Cafés in Paris. Da sind jene von Rang und Namen, die kein anständiger Tokioter Tourist versäumen darf, sonst hätte er Paris ohne „Les deux magots“ erlebt. Dort wird noch im Kimono serviert, und man läßt sich Zeit, an der heißen Brühe zu nippen, während der Blick über den kunstvollen Steingarten und das buntgemischte Publikum aus aller Welt streift. Daneben finden sich die obligatorischen Nudelbars an den großen Verkehrsknotenpunkten, wo man erschöpft den U-Bahn-Schacht erklommen hat, um bei der leichten Mahlzeit die Kräfte fürs nächste Rendezvous zu sammeln.

Dabei sind die Minuten an der Theke oft knapp bemessen. Doch erfährt man schnell das Wesentliche. Der Stand vom laufenden Baseballspiel läßt sich im Fernseher einfangen. Da die Stadtpläne in Tokio nichts taugen, gibt es beim Wirt die wichtigen Wegbeschreibungen. Dem ist die Unterhaltung sein Geschäft. Also läßt sich das Gespräch auf das Titelthema der Zeitungen weiterlenken oder aber unverbindlich abbrechen.

Natürlich müssen auch die Tokioter Barkeeper inzwischen an ihrer Menü-Karte flickschustern. Vielerorts haben sich Hamburger und Kaffeegetränk neben Buchweizennudeln und Sojagebackenem auf die Speisefolge geschmuggelt. Auch, wenn es an Sake und Tsukemono, dem pikant eingelegten Traditionsgemüse, deshalb noch nirgends fehlt.

Doch die Bars, in denen traditionelle Gerichte serviert werden, lassen sich an den Fingern abzählen. Wo wird die Buchweizennudel noch kurz vor dem Kochen frisch geschnitten? Leider macht auch die Unsitte, nur noch frische Nudeln aus der Fabrik zu servieren, auch nicht vor den geselligen Bars der Nachbarschaft halt. Schließlich mußte man sich auch im Stammcafé in der Pariser Banlieue daran gewöhnen, den Sandwich von der Mikrowelle zu bekommen.

Wie schon angedeutet, ist die Tokioter Nudel-Stammbar nicht mit der deutschen Stammkneipe zu verwechseln. Den Gästen fehlt hier die Zeit fürs ewige Geschwätz mit der ewigen Sauferei. Gerade deshalb aber ist es erholsam und im Alltag oft eine willkommene Aufmunterung, wenn man an der Nudelbar nicht nur Nudeln zu schlürfen, sondern auch Menschen anzusprechen vermag. Der kurze Dialog, das schnelle Glaubensbekenntnis, eine situationsgerechte Formel — darauf verstehen sich die JapanerInnen besser als auf tiefschürfende Analysen. Wie den Kaffee in Paris, umgibt die Nudelsuppe in Tokio ein kleiner, gut gepflegter Raum urbaner Öffentlichkeit im Gewimmel der Metropole.

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