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Fortbewegung nur nach Voranmeldung

Italien: Organisierter Behindertentransport  ■ Aus Arezzo Stefanie Risse

Wenn Emanuele mit seinem Vater einkaufen geht, dann ist das für ihn ein Riesenspaß: Gennaro nimmt den Fünfjährigen auf den Schoß, und schon rollen sie gemeinsam los. Emanuele hilft mit, daß der Rollstuhl in Schwung kommt. Die Türen des Supermarkts öffnen sich automatisch und ungehindert gleiten die beiden hinein in die Welt der Fressalien. Die Gänge sind weit und Emanuele füllt den Wagen. Doch mit dem Einkaufen im Supermarkt hört der Spaß auch auf. Bankangelegenheiten muß Gennaro delegieren: durch die doppelten Sicherheitstüren paßt kein Rollstuhl. Das ist in ganz Italien so. Ins Gesundheitsamt seiner Heimatstadt Arezzo müssen ihn zwei Träger begleiten, denn selbst wenn es Gennaro gelänge, die steilen Stufen zum Eingang zu überwinden — dahinter lauert ein viel zu enger Fahrstuhl.

Alles in allem sind Italiens mittelalterliche Städte mit ihren malerischen Kopfsteinpflastern, verwinkelten Gassen und Gemäuern kein bißchen behindertenfreundlich. Die Bürgersteige — wo es sie gibt — fallen oft schräg ab und sind für Rollstuhlfahrer daher ein Balance- und Kraftakt. Andere sind wiederum derart hoch, daß sie für alles Rollende unüberwindbare Barrieren darstellen. Wo es zur Auffahrt mal eine Rampe gibt, dient sie vor allem dazu, das Gewissen der Behörden zu beruhigen: Allzu schräg geschnitten bleiben sie unbrauchbar. Rollstuhlfahrer müssen es also mit den Autos aufnehmen: Abgase einatmen und ihr Leben riskieren, wenn sie sich selbständig in der Stadt fortbewegen wollen.

Italien gilt allgemein als das Land mit der vorbildlichen Integration von Behinderten in das „normale“ Alltagsleben. Seit rund 20 Jahren werden selbst schwerstbehinderte Kinder in die Regelschule integriert, seit 1978 sind alle geschlossenen Anstalten nach und nach geschlossen worden — heute gibt es keine Sondereinrichtungen mehr. Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Problemen werden weitgehend ambulant betreut. Behinderte gehören zum Straßenbild. Wie kommt es, daß die Integration bei der individuellen Fortbewegung aufhört?

An Gesetzen zur Abschaffung der architektonischen Barrieren fehlt es nicht. Bei allen neuen öffentlichen Gebäuden müssen die Bedürfnisse der Behinderten berücksichtigt werden. Nur — die Mehrzahl aller öffentlichen Gebäude ist in Italien „antik“. Zwar gibt es seit 1989 ein Gesetz, wonach zehn Prozent der für den Städtebau verwendeten Gelder für die Behebung der Barrieren ausgegeben werden sollen — allein, es fehlen die Kontrollen und Sanktionen. Zwischen dem Gesetz und seiner Anwendung klaffen Welten.

Was funktioniert, sind die organisierten Transporte. So ist für alle behinderten Kinder bestens gesorgt. Sie werden morgens mit dem Spezialbus des Gesundheitsamtes zu Hause abgeholt und in die Regelschule gebracht, nach Schulschluß heimgebracht, nachmittags zur Therapie gefahren und wieder zurück. Doch wenn die Schulzeit endet, fallen viele in ein tiefes Loch. Zwar gibt es therapeutische Werkstätten und die Gesundheitsämter versuchen, Arbeitsplätze für behinderte Jugendliche zu finden, doch gelingt dies nur in den weniger schweren Fällen. Die Glücklichen, die Arbeit haben, werden wieder hin- und hergefahren. Das alles, meint Gennaro Massotti, der für die „Nationale Liga für das Recht der Behinderten auf Arbeit“ spricht, sei gut gemeint, aber im Ansatz falsch. Er wünscht sich, daß alle Behinderten am normalen Straßenverkehr teilnehmen können.

Die Liga fordert ein „Recht auf Bewegung“, und das nicht nur nach 48stündiger Voranmeldung beim Fahrdienst. Verkehrsmittel sollen für alle Behinderte benutzbar sein. Behinderte wollen auch in ihrer Freizeit integriert sein und nicht vom Mitleid freiwilliger, oft kirchlicher Helfer abhängen. Obwohl es die gesetzlichen Grundlagen längst gibt, muß jede Sondervorrichtung hart erkämpft werden. Zum Glück verfügen die Behindertenorganisationen des Landes über regen Kampfgeist, doch manches Individuum kapituliert vor den Schwierigkeiten und bleibt zu Hause, in der Isolation.

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