INTERVIEW: Verkehrsstaus — ein lustvolles Freizeiterlebnis
■ Horst Opaschowski, Professor für Freizeit- und Tourismuswissenschaft an der Uni Hamburg und Leiter des BAT
taz: Das BAT-Freizeit-Forschungsinstitut hat eine neue Krankheit entdeckt: Staufieber. Wie kam es zu dieser Untersuchung?
Horst Opaschowski: Wir sind einem Phänomen nachgegangen, das in den letzten Jahren zunehmend die Bevökerung und die Experten beschäftigt und uns in Zukunft vor große Probleme stellen wird: Die Vermassung in Freizeitsituationen. Wir haben mit dem Massentourismus leben gelernt und müssen in Zukunft verstärkt auch mit Massensituationen, Gedränge und Stau in der Freizeit rechnen. Eine Untersuchung in diesem Jahr ergab, daß zunehmender Freizeitverkehr als das Zukunftsproblem Nummer eins von der Bevölkerung angesehen wird. Ausgangspunkt war für uns die Frage, was sind die erlebnispsychologischen Gründe, warum die Deutschen so sehr an ihrem Auto hängen und sich freiwillig oder unfreiwillig in Stausituationen begeben.
Was für Symptome hat das Staufieber?
Bei der Frage, wie die Bundesbürger auf Verkehrsstau bei Wochenend- und Urlaubsfahrten reagieren, zeigt sich, daß die deutsche Autofahrerschaft in sich gespalten ist. Die einen sind gereizt, nervös, reagieren wütend aggressiv, bekommen Kopfschmerzen, Schweißausbrüche bis hin zu Platzangst und Panik. Die anderen fiebern dem Stauerlebnis geradezu entgegen. Über elf Millionen Bundesbürger, so haben wir herausgefunden, sagen, ein bißchen Chaos darf ruhig sein. Sie fühlen sich wohl in solchen Situationen.
Gibt es wirklich Autofahrer, die gezielt losfahren, um sich in einen Stau zu stürzen?
Solche psychopathischen Erscheinungen gibt es bestimmt, aber das läßt sich nicht mit repäsentativen Erhebungen ermitteln. Kennzeichnend für die Bundesbürger ist auf jeden Fall eins: Fast alle haben heute über sechs Wochen Urlaub, verreisen davon nur zwei Wochen, fahren aber alle zur selben Zeit los. Das gleiche gilt für das Wochenende. Alle wollen um elf Uhr am Strand, am See und vor der nächsten Sehenswürdigkeit sein, obwohl es dafür keine Notwendigkeit gibt. Dieses Phänomen der Gleichzeitigkeit produziert letztlich natürlich Stau. Das Überraschende an dieser Umfrage war, daß ein relativ großer Teil den Stau positiv, lustvoll und gelassen ansieht, wobei man hier zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen unterscheiden muß. Überrepräsentiert sind hier insbesondere die Männer, dann die jüngere Generation und schließlich auch die ostdeutschen Autofahrer.
Was ist am Stau so lustvoll?
Dahinter steht wohl auch der Wunsch, sehen und gesehen zu werden. Dabei ist es für einen Cabrio-Fahrer ohne Belang, ob er steht oder fährt. Es ist sicher auch eine Flucht vor der Langweile zu Hause. Zwölf Prozent der Männer sagen, wo viel los ist, erlebt man auch viel. Und es gibt einen kleinen Teil von Masochisten, der sagt: »Je erschöpfter ich ankomme, um so wohler fühle ich mich.«
Bei den Masochisten ist der Frauenanteil mit vier Prozent genauso groß wie bei den Männern.
Ja, das ist aber auch ein relativ kleiner Teil. Die Erschöpfungslust ist vergleichbar mit der Angstlust im Freizeitbereich, das sogenannte »Thrilling«: Die Angst vorher und die Lust nachher, die bei Freizeitabenteuern wie dem »Bungy-Jumping« und ähnlichem erlebt wird. Vielleicht ist Autofahren im Stau ja auch so eins dieser letzten Abenteuer unserer Zivilisation. Es zeigt sich, daß zunehmend eine jüngere Generation heranwächst, die vielleicht gar nichts anderes kennt als dieses Massenzeitalter der Freizeit und nach dem Motto »make the best of it« sich damit anfreundet.
Spielt dabei auch der Wunsch nach einem Gemeinschaftserlebnis eine Rolle?
Sicherlich gibt es auch so etwas wie ein Gemeinschaftserleben von Leidensgenossen, »den anderen geht es auch nicht besser«. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß sich viele Menschen in vollem Bewußtsein ins Auto setzen, nur um den Stau zu erleben. Aber es ist ein Teil des Freizeiterlebens, so wie viele westdeutsche Italienfahrer auch schon in früheren Jahren den Stau auf dem Weg zur Adria und zum Teutonen-Grill billigend und vielleicht manchmal sogar auch erlebnisintensivierend in Kauf genommen haben. Es gibt mittlerweile ja auch schon viele Erlebnishilfen. Zum Bespiel die Stauberater vom ADAC, der in diesem Jahr zum ersten Mal Mobiltelefone einführt. Man kann sich im Auto also richtig häuslich einrichten und Oma und Opa direkt von der Autobahn ausrichten, daß man im Moment noch im Stau steckt.
Warum leiden die Ostdeutschen mehr am Staufieber als die Westdeutschen?
Das muß einfach ein Nachholbedarf sein. In den letzten zwei Jahren haben wir festgestellt, daß ein zunehmender Anteil von ostdeutschen Bundesbürgern mit dem Auto einfach nur so herumfährt, als Freizeitbeschäftigung. Das ist für manche wichtiger als das Ankommen, währenddessen diese Neigung bei den Westdeutschen erheblich abgenommen hat. Interview: Plutonia Plarre
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