: Stille Stürme
■ Shogo Otha und ein deutsch-japanisches Ensemble üben im Künstlerhaus Bethanien wird die Langsamkeit
Von dem experimentellen Komponisten John Cage gibt es ein Musikstück, das die Geräusche und die Reaktionen des Publikums zum eigentlichen Kunstwerk erhebt. Der Rahmen, in dem die von Husten und Scharren torpedierte Ruhe abläuft, schafft die Ästhetik; dem Inhalt gibt der Zuhörer Größe. Oder Kleinheit.
Die Arbeitsweise, mit der der Japaner Shogo Otha umgeht, hat etwas von dieser Reduktion — ob dabei Wesentliches bewegt wird, ist ganz in die Verantwortung des Zuschauers gestellt. »Wind« ist eine japanisch-deutsche Koproduktion, die jetzt im Künstlerhaus Bethanien zu besichtigen ist. Kein Abend für ein actionbedürftiges Publikum, sondern eine von Sensationsgier reinigende Meditation über das Wesen der Dinge, die vom Zuschauer ein Höchstmaß an Offenheit und an Geduld verlangt.
Die aus einem japanisch-deutschen Workshop hervorgegangene Arbeit des künstlerischen Leiters vom Stadttheater in Fujisawa versucht, jenseits aller gesellschaftlicher Bestimmung, das Eigentliche, das Sein ohne einengende Funktion sichtbar und, wenn möglich, erfahrbar zu machen. Mit einer für unsere europäische Sehgewohnheit ungewohnten Langsamkeit, die weit über Robert Wilsons Technoakribie hinausgeht, zelebrieren die Schauspieler auf der mit Sand belegten Bühne allein durch ihren Körper ein Kommen, Verweilen und wieder Gehen. Die vorgestellte Arbeit beseelt der Blick aufs bloße, unverstellte Dasein. Im Vertrauen, daß die reine Anwesenheit schon eine Geschichte schafft (denn nach Wim Wenders: »die story lügt«) betreten die Schauspieler nacheinander die Halle, verweilen kurz (wie relativ diese Kürze auch immer ist) auf dem sandigen Rund, nähern sich an, entfernen sich wieder und verschwinden mit der gleichen Langsamkeit, mit der sie gekommen sind. Mit Harmonie hat das alles wenig zu tun, denn der Konflikt tobt unter den Geschlechtern. Ein Meer von Mißverständnissen tut sich auf. Aus Annäherung wird schnell Vergewaltigung, und letztlich bleiben alle neun Gestalten einsam, Monaden auf einer unendlichen Reise, die das Leben ist.
Gegen Ende erscheint dann ein schrulliger Mann mit Bilderrahmen: Wo immer er diesen Bildfänger aufstellt, entsteht für Momente eine Behauptung von Bedeutung, und daß er dafür Geld fordert, kann dann doch einen kleinen gesellschaftskritischen Anflug nicht meiden — die Kunst läßt sich die Einengung der Perspektive auf die Welt bezahlen; freilich eine Einengung, die durch die Reduktion aufs bloße Passieren zum Wesentlichen vorzustoßen hofft (und damit wieder mentale Räume öffnet). Ansonsten weist Shogo Otha jeden diesbezüglichen Anspruch von sich: »Die Kunst ist für mich ein Mittel, dem Leben an sich, dem Sein, dem Dasein des Menschen Ausdruck zu geben und damit seinen Wert bewußt zu machen, einen Wert, der sich nicht in den gesellschaftlichen Funktionen des Denkens, des Sprechens und der Bewegung erschöpft.«
Was vor unseren Augen mit unendlicher Genauigkeit und endloser Liebe zur einfachen, gegen Null tendierenden Aktion abläuft, erinnert an die Jugendträume einer stillgestellten Welt, in der man als einzig Bewegter herumlaufen und allerlei verbotene und gewünschte Dinge tun kann. Die Erfüllung dieses Traums wird hier allerdings nicht gewährt, die unendliche Verlangsamung der Zeit hat viel zu alptraumhafte Züge: brüllende Schreie der Stille, wie sie uns in aufgerissenen, schmerzklagenden Mündern begegnen. Die Langsamkeit, mit der die menschlichen Regungen im wahrsten Sinne ver-sanden, ist so zwingend, daß einem plötzlich der Schreck in die Glieder fahren kann, wenn aus der Dunkelheit der Toröffnung die Nase eines nachrückenden Darstellers ganz allmählich sichtbar wird.
Das Premierenpublikum zeigte sich insgesamt gewillt, die Strapaze auf sich zu nehmen und, jenseits eingefahrener Rationalismen, das langsame Vergehen der Zeit nach eigenen Erfahrungen abzusuchen. Ob das Wesen der Darstellung allerdings dadurch erschließbar wird, daß man — wie mein professionell dreinblickender Nachbar — die Uhrzeit notiert, sobald auf der Bühne etwas passiert, muß doch sehr fraglich bleiben und verrät etwas von der europäischen Hilflosigkeit (vor allem: der Theaterkritiker) im Umgang mit einer außereuropäischen Theater- und Gefühlsaura. baal
Weitere Aufführungen: 11.6., 13.-15.6.; jeweils 20.00 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen