piwik no script img

US-Triebwerke machen Musik

Die Kurden im Nordirak leiden doppelt: Unter der Blockade des irakischen Diktators Saddam Hussein und unter den Sanktionen der UNO/ Ein Jahr nach der Befreiung Irakisch-Kurdistans ist von Normalität noch keine Spur  ■ Von Khalil Abied

Eine Brücke, die zwei Welten trennt. Sie überspannt den Grenzfluß Khabur. Vor der Überfahrt nach Irakisch- Kurdistan, auf der türkischen Seite, verursachte das Wort „Kurde“ noch schreckhafte Reaktionen bei dem türkischen Grenzpolizisten. „Kurden — Terrorist“, radebrechte er in gebrochenem Englisch. Dabei bewegte er seine Arme, als schieße er mit einer Maschinenpistole.

Jenseits des Flusses herrscht eine lockerere Atmosphäre. „Willkommen im freien Kurdistan!“ kann man auf einem bunten Schild lesen. Daneben stehen einige Peschmergas, die bewaffneten Kämpfer der Kurdischen Front, einer Dachorganisation der verschiedenen kurdischen Parteien.

Ein Einreise-Visum ist nicht nötig. Hier gibt es auch keine mißtrauischen Grenzsoldaten, unter deren Blicken man, wie so oft im Nahen Osten, stundenlange Formalitäten über sich ergehen lassen muß.

„Willkommen im freien Kurdistan!“

Seit einem Jahr gilt Irakisch-Kurdistan als befreit. Die Regierung in Bagdad hat ihre Truppen und den gesamten Verwaltungsapparat aus diesem Gebiet abgezogen. Diktator Saddam Hussein wollte damit den Kurden zeigen, daß sie nicht in der Lage seien, ihre Angelegenheiten selbst zu verwalten. „Saddam hat uns den Fehdehandschuh ins Gesicht geschlagen, und wir müssen nun die Herausforderung annehmen. Ansonsten verlieren wir das Gesicht vor unseren eigenen Leuten“, sagt ein Funktionär der Kurdischen Front.

Schon kurz nach der Einreise spürt man die Auswirkungen der von der Zentralregierung in Bagdad verhängten Blockade. Auf dem Weg nach Zakho, der ersten Stadt hinter der türkisch-irakischen Grenze, stehen auf beiden Seiten der Straße Menschen, die versuchen, ihr Brot durch eine Art „illegaler Tankstellen“ zu verdienen. Eine Tonne ersetzt die Zapfsäule. Der selbsternannte Tankwart saugt mit einem kleinen Schlauch das Benzin an und steckt ihn dann blitzartig in die Tanköffnung des Autos. Dabei ist er eifrig bemüht, nichts von der kostbaren Flüssigkeit daneben laufen zu lassen. Ein Liter Benzin kostet in Kurdistan dreißigmal soviel wie im restlichen Irak.

In den Städten sind die meisten Regale in den Geschäften fast leer. Außer türkischen Cola-Dosen, Keksen, Schokolade und iranischem Waschmittel ist kaum etwas zu finden. Frisches Obst und Gemüse gibt es überhaupt nicht, und die paar Lebensmittel, die aus der irakisch-kurdischen Stadt Mossul geschmuggelt werden, sind für die meisten unbezahlbar.

Bagdads Blockade behindert massiv die Kurden

Mossul liegt außerhalb des befreiten Gebietes. Für die Kurden ist es dennoch kurdisch. Die irakische Regierung hatte dort in den letzten Jahren viele sunnitische Araber im Rahmen eines sogenannten „Arabisierungs- Programmes“ angesiedelt. Sie bilden heute die Mehrheit in der Stadt. Hier rekrutierte Saddam auch Mitglieder der Spezialeinheiten der Republikanischen Garden, deren Loyalität das Rückgrat des Regimes in Bagdad darstellt. Durch die strategisch vorteilhafte Lage Mossuls lassen sich von dort die Verbindungsstraßen zwischen den Städten des befreiten kurdischen Gebietes kontrollieren. Von hier aus führt die irakische Zentralregierung ihren Wirtschaftskrieg und ihre Blockade gegen die befreiten Gebiete.

„An den Straßensperren nehmen uns die irakischen Soldaten alles ab“, erzählt die 45 Jahre alte kurdische Hausfrau Nadia. Sie war nach Mossul gefahren, um für ihre Familie etwas zu essen zu besorgen. Mit leeren Händen kam sie nach Hause, da die Soldaten die Tomaten, Eier und Apfelsinen mit ihren Füßen zertreten hätten.

Coca-Cola-Dosen und Kekse aus der Türkei, Waschmittel aus Iran

Ein Taxifahrer erzählt, wie die Soldaten ihn ständig beleidigen, seinen Benzinkanister ausleeren und ihm gerade genug übriglassen, damit er wieder nach Hause zurückkehren kann. Eine Fahrt nach Mossul ist auch ein Kampf mit der irakischen Bürokratie. Die Fahrer brauchen eine Genehmigung von der Provinzverwaltung und eine zweite vom irakischen Geheimdienst. Sie muß alle 14 Tage erneuert werden und kostet den Fahrer fast zwei durchschnittliche Monatsgehälter eines kurdischen Arbeiters. Die Geheimdienste versuchen bei dieser Gelegenheit, die Fahrer zur Mitarbeit zu überreden. Unter diesen Umständen besucht kaum jemand im befreiten Kurdistan seine Verwandten in anderen Städten.

Doch es ist nicht nur die Versorgungslage, um die es nicht zum besten steht. Auch die üblichen Dienstleistungen liegen brach. Nur wenige Kurden können sich glücklich schätzen, über einen Strom- und Wasseranschluß zu verfügen. In den Armenvierteln und auf dem Land sieht man nun wieder, wie die Frauen mit allen Arten von Gefäßen zum Brunnen ziehen. Abends verbringen die Familien ihre Zeit im Licht von Kerosinlampen.

Fast alle Dienstleistungen liegen brach

Die meisten Krankenhäuser und Arztpraxen, die oft nur in den Städten zu finden sind, bleiben weiterhin geöffnet. Es mangelt allerdings an allem. Nur selten bringen Hilfsorganisationen Medikamente vorbei.

Obwohl es viel zu tun gibt, ist es eher die Ausnahme, Arbeit zu finden. Fast alle Fabriken und Betriebe sind aus Mangel an Ersatzteilen und Rohstoffen geschlossen. Die Korruption innerhalb einiger Gruppierungen in der kurdischen Front hat diese Situation noch verschärft. Ganze Fabriken, Staudammanlagen, LKWs oder Bulldozer haben sie in den Iran verscheuert. Damit sollte das Taschengeld einiger Parteifunktionäre und Peschmergas aufgebessert werden. Manche sprechen sogar von einer Art Mafia. Als vor einigen Monaten die Paten dieser Mafia ihr Treiben nicht mehr geheimhalten konnten, hörte der Spuk plötzlich auf. Der Skandal war zu offensichtlich geworden - und zu verkaufen gab es ohnehin kaum noch etwas.

Unter großen Schwierigkeiten, und trotz des Mangels an Unterrichtsmaterialien drücken die kurdischen Schüler und Studenten wieder die Schulbank. Die Prüfungen werden von der UN-Unterorganisation UNESCO allerdings nicht anerkannt. Grund: Der offizielle Stempel aus Bagdad fehlt. So verlieren möglicherweise Hunderttausende von Schülern und Schülerinnen dieses Schuljahr.

Es ist die Ausnahme, Arbeit zu finden

Und da ist noch das Problem der kurdischen Flüchtlinge, die im letzten Jahr wieder begannen, ihre Heimatorte aufzubauen. Sie kehren in die 4.000 kurdischen Dörfer zurück, die auf Befehl aus Bagdad seit 1988 dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Damals wurden die Menschen in sogenannte „Kollektivdörfer“ umgesiedelt und zusammengepfercht. Dort standen sie unter ständiger Kontrolle der irakischen Armee. Über eine viertel Million Menschen sollen bei diesen Umsiedlungsaktionen verschwunden sein.

In einem der Ursprungsorte, „Biba Islam“, leben jetzt wieder neunzig Familien, erzählt einer der Rückkehrer. Die Schweizer Caritas betreibt ein Hilfsprogramm für dieses Dorf. Reis, Zucker, Öl und Mehl wurden an die Familien verteilt — genug für ein halbes Jahr. Jede Familie erhält Holz und ein Gerüst, um ihr Haus wieder aufzubauen. Die Frauen sammeln Steine und rühren mit Wasser und Lehm den Zement an. „Können Sie sich vorstellen: 4.000 Dörfer, das heißt 4.000 Schulen und Arztpraxen, und für alle müssen Wasser- und Stromleitungen gelegt werden“, erklärt Hamed, der seinen Job als Ingenieur im Ausland aufgegeben hat, um seinen Landsleuten zu helfen. 180.000 Unterkünfte müssen fertiggestellt werden, damit die obdachlosen Kurden wieder ein Dach über den Kopf bekommen. Letztes Jahr wurden gerade mal 30.000 mit Unterstützung der Hilfsorganisationen gebaut.

Ein Dach überm Kopf für 180.000 Obdachlose

Der Wiederaufbau kostet mindestens 1,5 Milliarden Dollar, schätzt Aras, ein kurdischer Wirtschaftsexperte. Die humanitäre Hilfe im letzten Jahr betrug aber nur 25 Millionen Dollar. „Wir brauchen ein Entwicklungsprogramm, das von den westlichen Ländern unterstützt wird“, meint er. Anders ließen sich die riesigen Probleme nicht lösen.

Abgesehen von der Blockade der Bagdader Zentralregierung leiden die Kurden auch unter den von der UNO verhängten Sanktionen gegen den irakischen Staat. „Warum nimmt die UNO Kurdistan nicht von der Blockade aus und hilft uns, unsere Ölanlagen wieder aufzubauen? Mit der Ölrente könnten wir den Wiederaufbau finanzieren“, kritisiert Aras. Humanitäre Hilfe allein mache die Kurden nur zu Bettlern.

Doch es ist nicht die wirtschaftliche Lage oder die Sorge um den Wiederaufbau, die den meisten Kurden Angst macht. Alle sprechen von der allgemeinen Sicherheitslage. „Das Dröhnen der US-Kampfflugzeuge über unseren Köpfen ist Musik für mich“, erklärt der Rückkehrer Hassan. Er ist sich sicher: Bliebe dieser Klang auch nur einen Tag aus, müßten die Kurden wieder in die Berge fliehen. Jeder Kurde hat sein Bündel fertig gepackt, um sich notfalls wieder auf die Flucht zu begeben.

Das Wort „fliehen“ gilt bereits als Synonym für „überleben“. Ein 75 Jahre alter Peschmerga sagt, er würde, falls die irakischen Soldaten zurückkehrten, das Magazin seines Gewehrs leerschießen und dann davonlaufen. Auch ein Führungsmitglied einer der großen kurdischen Organisationen glaubt nicht, daß die Menschen bleiben würden, um ihre Städte zu verteidigen.

Jeder Kurde hält seine Siebensachen griffbereit

Das Gefühl der Angst ist zu einem wesentlichen Bestandteil kurdischer Sozialpsychologie geworden. Die Frage, wie mit dieser Angst umzugehen sei, führt zur Uneinigkeit zwischen den Chefs der beiden großen kurdischen Organisationen, Masud Barzani und Jalal Talabani. Für die „Demokratische Partei“ Barzanis kann nur ein dauerhaftes Abkommen mit der Zentralmacht in Bagdad Sicherheit garantieren. Auf eine ausländische Macht könne man sich nicht verlassen, meint eines der Parteimitglieder. Die Erfahrungen im Jahre 1975 hätten dies gezeigt. Damals schloß Saddam Hussein in Algier mit dem wichtigsten Bündnispartner der irakischen Kurden, dem Schah von Persien, ein Abkommen. Nach diesem Abkommen, das Grenzstreitigkeiten zwischen beiden Staaten regelte, ließ der Schah die irakischen Kurden von einem Tag auf den anderen fallen. Der kurdische Widerstand, so argumentieren die Demokraten Barzanis, dürfe nicht die Rolle eines Faustpfandes für ein anderes Regime spielen, das mit Bagdad in Konflikt liegt. Der Kern der Strategie liege in einer friedlichen Lösung innerhalb des Irak.

Angst bestimmt kurdisches Bewußtsein

Anders interpretieren Talabanis Anhänger der „Patriotischen Union Kurdistans“ die Situation. Die einzige Chance besteht ihrer Meinung nach darin, wie die Armenier, Aserbaidschaner, Kroaten oder Slowenen auf das Recht auf Selbstbestimmung zu pochen. Dazu benötige man die Hilfe der USA, der Türkei und des Iran.

Die Mitglieder der Partei Barzanis halten dies für naiv und unrealistisch. Die Lage der Kurden lasse sich nicht mit der Situation der Völker des ehemaligen Jugoslawien oder der früheren Sowjetunion vergleichen. Für den Westen sei das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung ein Tabu. Zusehr würde ein solcher Schritt die politische Landkarte der Region auf den Kopf stellen. Daher bleibe den Kurden nur, soviel Druck wie möglich auf Bagdad auszuüben, um eine innerirakische Autonomie zu erkämpfen. Demgegenüber behauptet Talabani, nur er könne den militärischen Schutz der Kurden mit Hilfe des Westens gewährleisten und westliche Entwicklungshilfe ins Land holen.

Ein Unentschieden bei ersten freien Wahlen

Die ersten kurdischen Wahlen im letzten Monat haben eine Pattsituation zwischen den beiden großen Parteien geschaffen. Damit sind auch in naher Zukunft die Aktivitäten der Kurdischen Front gelähmt. Inzwischen hofft Saddam Hussein in Bagdad darauf, daß die kurdischen Organisationen durch ihre Rivalitäten an Glaubwürdigkeit verlieren und das westliche Interesse an den Kurden nachläßt.

Ob Saddam Husseins Kalkül aufgeht, wird sich schon bald zeigen. Am 30. Juni läuft die Frist für die Stationierung alliierter Truppen aus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen