„Nicht einfach für andere Verbrechen bestrafen“

In Israel läuft das Berufungsverfahren gegen den vor vier Jahren zum Tode verurteilten John Demjanjuk/ Neue Dokumente, nach denen er nicht „Ivan der Schreckliche“ aus dem Todeslager Treblinka war/ Staatsanwaltschaft will Verfahren erweitern  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

War John Demjanjuk tatsächlich der berüchtigte „Ivan der Schreckliche“ aus dem Todeslager Treblinka, wie ein israelisches Gericht vor vier Jahren feststellte? Und wenn er es nicht war, worüber soll dann das Oberste Gericht im nun laufenden Berufungsverfahren befinden? In einem dramatischen Prozeß war Demjanjuk nach seiner Auslieferung aus den USA in Israel im April 1988 zum Tode verurteilt worden. Doch inzwischen liegen neue Dokumente vor, nach denen nicht er der sadistische Antreiber am Eingang der Gaskammern von Treblinka war, wo 800.000 Juden ermordet wurden, sondern daß die ihm zur Last gelegten Verbrechen ein anderer, Ivan Marchenko, verübt hat. Demjanjuk selbst war Dokumenten zufolge, die die Staatsanwaltschaft vorlegte, möglicherweise Wachmann in Flossenbrück oder Soribor.

Im Prozeß gegen den heute 72jährigen Demjanjuk ging und geht es vor allem um die Frage der Identität. Vergangenen Mittwoch forderte der Anwalt Demjanjuks, Joram Scheftel, das Oberste Gericht in Jerusalem auf, es dem Staatsanwalt nicht zu gestatten, das Verfahren in einen ganz anderen Prozeß zu verwandeln. Man könne den hier Verurteilten nicht einfach für angebliche andere Verbrechen bestrafen, so Scheftel. Chefankläger Michael Schaked hat die Möglichkeit eingeräumt hat, daß Demjanjuk tatsächlich „nur“ Wachmann in anderen Lagern gewesen sein mag. Er erklärte jedoch: „Demjanjuk war Teil der SS-Vernichtungsmaschinerie an verschiedenen Orten“. Wichtig sei, daß er als Wachmann gedient habe. „Im Lichte der genannten Schrecken kann der Status eines für die Bedienung der Gaskammern Verantwortlichen nur nebensächlich sein“, sagte Schaked.

Zum Beleg dafür, daß es sich bei Demjanjuk nicht um den Schergen von Treblinka handelt, stützt sich sein Anwalt auf Gerichtsprotokolle, die in letzter Zeit in Rußland aufgefunden wurden. Darin finden sich die Aussagen zahlreicher Rotarmisten, die nach ihrer Gefangennahme durch die deutsche Armee als Wachleute in Vernichtungslagern eingesetzt worden waren. Diese erklärten einmütig, daß die Gaskammern in Treblinka von Ivan Marchenko und Nikolaj Schelajev bedient wurden. Verteidiger Scheftel legte 80 solcher Erklärungen ehemaliger Wachleute aus der Ukraine vor, die vor 1962 von sowjetischen Gerichten zu langen Gefängnisstrafen oder zum Tode verurteilt wurden. Schelajev wurde im Jahre 1952 in der Sowjetunion hingerichtet. Marchenkos Spuren verlieren sich 1944 in Jugoslawien.

So forderte der israelische Anwalt Demjanjuks in der vergangenen Woche das Gericht auf, den Angeklagten freizusprechen, weil dieser einer „Verschwörung“ zwischen den USA und der ehemaligen Sowjetunion zum Opfer gefallen sei, an der wahrscheinlich auch Israel beteiligt gewesen sei. Es mußte bekannt gewesen sein, sagte er, daß Ivan/John Demjanjuk nach seiner Gefangennahme durch die deutsche Armee im Frühjahr 1942 als Wachmann in verschiedenen anderen Lagern eingesetzt wurde, nicht aber in Treblinka.

Im gegenwärtigen Stadium des Berufungsverfahrens, das vor zwei Jahren eingeleitet wurde, beschuldigt der Demjanjuk-Verteidiger die Vorinstanz — das Jerusalemer Distriktgericht — einer „veranwortungslosen Entscheidung“ und die Anklagevertreter des Versuchs, „die Ehre des Gerichts zu retten.“ Im Rahmen des gültigen Rechts, erklärte er, dürfe sich das oberste Gericht nun lediglich mit der „Treblinka-Affäre“ befassen. Diese sei Grundlage des amerikanischen Gerichtsbeschlusses gewesen, Demjanjuk an Israel auszuliefern. Verbrechen, die Demjanjuk in den Lagern Flossenburg, Sobibor oder Trawniki zur Last gelegt werden, meinte Scheffel, seien im Rahmen des Revisionsverfahrens nicht relevant.

Staatsanwalt Michael Schaked argumentiert demgegenüber, daß es nach israelischem Recht genügt, zu beweisen, daß eine Person in einem Todeslager als Wachmann gedient hat, um sie aufgrund des Gesetzes über Nazi-Kriegsverbrechen zu verurteilen. Er stützt sich auf die Aussagen von Treblinka-Überlebenden und neues Dokumentationsmaterial, die zusammen mit den Geständnissen eines anderen urkrainischen Wachmanns aus dem Jahr 1949 bezeugen, daß Demjanjuk in sechs verschiedenen Lagern aktiv an der Vernichtung von Juden teilgenommen habe. Auf Grund ihrer Zeugenaussagen vor sowjetischen Gerichten sind alle Wachmänner ohne Ausnahme schuldig, und es sei deshalb nicht notwendig, Beweise über spezifische Greueltaten dieser Personengruppe zu liefern, fügte er hinzu. Bei dem Revisionsverfahren gehe es jetzt vor allem um den Status und die Rolle der Wachmannschaften, und die Anklage wolle aufgrund neuen Materials aus Rußland und Deutschland beweisen, daß John Demjanjuk während des Krieges im Dienste der SS stand.

Anders als der Verteidiger Scheftel meint Anklagevertreter Schaked, daß das Oberste Gericht nun eine Doppelrolle spielen muß: als Revisionsgericht und gleichzeitig als niedere Instanz, die neues Beweismaterial zu beurteilen hat. Inzwischen hat das US-amerikanische Bundesgericht die Wiederaufnahme des Auslieferungsverfahrens gegen John Demjanjuk an Israel angeordnet. Das Gericht wird zu entscheiden haben, ob die ursprüngliche Auslieferungsentscheidung aufgrund falscher Informationen gefällt wurde und nun zu revidieren ist.