: Auf der Theaterkanzel
■ Halldór Laxness' „Am Gletscher“ in Meiningen
Vor zwanzig Jahren sandte der Bischof in Reykjavik seinen Pfarrer Sira Jon Primus ans Ende der isländischen Welt. Er hat sich nie wieder gemeldet, sein Pfarrgehalt nie abgeholt. Man möchte glauben, der Mann sei tot. Der Bischof fürchtet Schlimmeres: der Pfarrer könnte ein Heiliger geworden sein, ein Anarchist, ein Muslim, in letzter Not: in einen Heiden zurückverwandelt und abergläubisch geworden sein. Vor Gletschern und Mitternachtssonnen ist alles möglich; daß der Pfarrer Pferde beschlägt, nicht mehr predigt, seine Kirche so vernagelt ist wie er selbst.
Sira Jon Primus ist in Meiningen Lothar de Maizière wie aus dem Gesicht geschnitten, nur weiser. Vom Predigen hält er nichts. Die Wahrheit versteht sich von selbst. Die Lüge ist nur ein schöner Spaß, beweist sie doch die Wahrheit des Lügners. Des Pfarrers ganze Lebenstheorie lautet: „Wasser ist gut.“ Einem Verdurstenden stellt sich eine so einfache Theorie von allein als wahr heraus.
Unwahrscheinliches geschieht. Der Zauber der Feen und der Magie hält Regiment. Der Gesandte des Bischofs wird auf der Suche nach dem Pfarrer zum absurden Detektiv: „Sagen Sie mir eben die Unwahrheit.“ Er ist die Karikatur eines Vernünftlers, das Dorf folgt den eigenen Gesetzen jenseits von Gut und Böse. Eine zauberhafte Welt jenseits aller Aufklärung — der Begriff der Wahrheit ist hier relativer als anderswo.
Mißtraut den Ideologien, sagt die Meininiger Inszenierung dazu, mißtraut Theorien und Theologien. Jede Wahrheit ist ideologisch verbrämbar. Für diese Selbstverständlichkeit erhielt das Theater nur spartanischen Applaus. Applaudiert ein Dürstender, wenn er auf Wasser stößt? Kleiner Applaus sagt nichts über den Erfolg der deutschen Erstaufführung von Am Gletscher aus. 1967 verfaßt vom isländischen Romancier Halldór Laxness, wurde der Roman schon 1970 dramatisiert, jetzt von Katrin Kazubko neu in Dialoge gegossen und forsch eine „Uraufführung“ genannt.
Laxness ist im Westen nahezu unbekannt. Im Osten wurde er unter der widersprüchlichen Formel „katholischer Sozialist“ gelesen. 1953 erhielt er den Weltfriedenspreis der Sowjetunion. Seit 1956 kritisierte er die UdSSR. 1955 erhält er den Nobelpreis für Literatur, wird im Westen aus dem Dänischen statt aus dem Isländischen übersetzt. Laxness zieht die Übersetzungen zurück. 1988 beginnt der Göttinger Steidl-Verlag erstmals, eine angemessene Übersetzungsarbeit in einer Werkausgabe zu editieren.
Laxness' Komödie der Wahrheit kommt dem traditionsverpflichteten Meininger Theater zupaß. Meiningens Bühne erlangte unter dem Theaterherzog Georg II. (1826 bis 1914) Weltruhm. Georg erfand die Werktreue, baute in Südthüringen ein Theater, das Meiningen verließ und sechzehn Jahre durch Europa tourte, den Schmieren andernorts zeigte, was ein präzis studiertes Theater bedeutete. Georg II. war der Peter Stein des 19. Jahrhunderts. Sein Vorgänger hieß Graf von Hahn-Neuhaus, der Erfinder der preußischen Spielart der Schmiere, die Georg bekämpfte.
Zwischen Schmiere und ernstem Staatstheater lag ein Intendantenwechsel. Heute steht ein Regisseur dazwischen — Roland Gall. Er kippt mühelos Schmiere in Stadttheater. Zwischen Komödie und Predigt liegt kein Fingerbreit. Man spielt mit guten Schauspielern Chargentheater von jener Kanzel herab, die bei Halldór Laxness zu Brennholz verarbeitet in der zugenagelten Kirche aufbewahrt wird. Auf dem Meininger Kanzeltheater wird die Predigt in Philosophie geschnürt und zur Konserve gemacht.
Alles darin wirkt veraltet und patiniert. Die Bühne von Helge Ullmann erinnert an Komödienstadl. Die Autorin Katrin Kazubko ist Theaterwissenschaftlerin in München. Alle zwei Minuten fällt ein Satz zum Mitschreiben. Die Dramatisierung des Romans des nunmehr neunzigjährigen Laxness verneigt sich tief vor der Erzählkunst des 19. Jahrhunderts, eines Poe oder Hamsun. Intendant Ulrich Burkhardt betont: Theater muß wieder Geschichten erzählen können — zeitlos schöne Geschichten.
Erzählt wird mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts — von Avantgarde und Existenzialismus. Den Pfarrer läßt Laxness sagen: „Die Vögel zwitschern wunderschön. Würden sie permanent die Wahrheit zwitschern, wären sie unerträglich.“ Bester Sartre ... Er folgert daraus: „Die Wörter haben ihren Sinn verloren.“ Sie klängen nun wie Jandl, die Geschichten absurd wie bei Ionesco.
Laxness beschreibt ein Island wie Alice hinter den Spiegeln. Die Schönheit beruht auf eine Melange trockenen Witzes und märchenhafter Mythologie. Uá heißt ein Feenwesen, der alle verfallen. Der Gletscher Snäfellsnes, den schon Jules Verne als Einstieg zum Mittelpunkt der Erde sah, ist der Busen der Fantasterei, an dem das Dorf sich nährt — nicht an der Weisheit, nicht an der Wahrheit, sondern am Volkswitz. Ein Traumtheater gegen die allmächtige Vernunft der Vernünftler wäre es gewesen.
Aber es wird ein Schmierengugelhupf nach dem anderen auf den Holztisch getragen. Wird Kuchen gefuttert und knöcherner Realismus geprobt. Ungerührt stadttheatert das Ensemble mit dem Gestus der Aufklärung. Es kreuzt Georg II. mit Hahn, kreuzt Komödiantenanekdote mit Staatstheaterdramaturgie. Laxness' Fantasie mag keiner erliegen. Die Liga der Vernünftigen steht der Liga der Verzauberten nur gleichgültig gegenüber. Das Theater sitzt auf der Kanzel. Vergeblich predigt es von dort, nicht mehr zu predigen. Arnd Wesemann
Halldór Laxness: Am Gletscher , bearbeitet von Katrin Kazubko. Regie: Roland Gall. Bühne: Helge Ullmann. Mit Helge Lang, Matthias Klausener, Peter Deppe, Rosemarie Blumenstein u.a.: Das Meininger Theater. Nächste Vorstellung am 20.Juni.
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