: Pfiffe und Buhrufe für Diepgen
■ Mehrstündige Arbeitsniederlegung von 5.000 BVGlern und Müllwerkern im Ostteil/ Forderung: 80 Prozent der Westlöhne, rückwirkend zum 1. Mai
Berlin. »Denen sollte man den Müll doch in den Kragen kippen«, fluchte ein Fahrgast gestern vormittag auf dem U-Bahnhof Alexanderplatz über den spontanen Streik der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Ost-Berlin. Mit diesem Wunsch stand der Mann allerdings ziemlich alleine da. Die meisten Fahrgäste hatten für die Streikenden vollstes Verständnis, obwohl sie wegen der stillstehenden U-Bahnen, Trams und Busse große Schwierigkeiten und Umwege in Kauf nahmen. »Das ist die Quittung dafür, daß die CDU im Wahlkampf die Parole rausgehauen hat, gleichen Lohn für gleiche Arbeit«, stand für ein Rentnerehepaar fest.
Über 5.000 Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe und Straßenreinigung protestierten mit der spontanen Arbeitsniederlegung gegen die Ankündigung des Senats. Danach werden die Tarife für die 170.000 Beschäftigten des Ostberliner öffentlichen Dienstes erst am 1. Oktober auf 80 Prozent des Westniveaus gehoben. Die Ostberliner fühlen sich vom Senat verschaukelt. Dabei sollen sie neun Monate früher als ihre Kollegen in den neuen Bundesländern 80 Prozent erhalten. Nicht erst zum 1. Oktober, sondern rückwirkend zum 1. Mai, so ihre Forderung, müßten die Tarife auf 80 Prozent angeglichen werden. Alles andere sei »Wortbruch« des Senats. An ein solches Versprechen wollte sich der Regierende Bürgermeister Diepgen allerdings nicht erinnern können, als er gestern vormittag von Hunderten aufgebrachten Streikenden vor dem Roten Rathaus mit Pfiffen und Buhrufen empfangen wurde. In seiner kurzen Ansprache verwies er lediglich darauf, daß die Möglichkeiten des Senats erschöpft seien.
Der Berliner ÖTV-Vorsitzende Kurt Lange wußte es besser. Am 15. März 1991, so Lange unter Berufung auf den Artikel einer Tageszeitung, habe Innensenator Heckelmann beim Tag der offenen Tür im Roten Rathaus erklärt, er wolle »bis an die Grenze des Rausschmisses« aus der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) gehen, um eine Angleichung der Tariflöhne Ost auf 80 Prozent der Westeinkommens durchzusetzen. Die Angleichung »soll ab 1. Mai für Angestellte des öffentlichen Dienstes aus dem Ostteil der Stadt gelten«, zitierte Lange den Innensenator.
Nachdem eine ÖTV-Delegation mit Diepgen »ein Gespräch« zwischen ÖTV und Innensenator Heckelmann über die Frage einer früheren Anhebung auf 80 Prozent ausgehandelt hatte, wurde der Arbeitskampf gestern mittag zunächst abgeblasen. Eine rückwirkende Anhebung auf 80 Prozent zum 1. Mai hält ÖTV-Chef Lange zwar »kaum für durchsetzbar«, aber ein »früherer Zeitpunkt als Oktober muß es schon sein«. Dies sei auch nicht ungerecht gegenüber den Kollegen in den neuen fünf Bundesländern. Schließlich seien die Mieten und Heizkosten in Berlin um 25 Prozent teurer als im Umland. Der ÖTV-Chef wollte weitere spontane Arbeitsniederlegungen nicht ausschließen, wenn bei den Gesprächen mit Innensenator Heckelmann »nichts herauskommt«. Ein erstes Treffen fand bereits gestern nachmittag statt, bis Redaktionsschluß lag jedoch kein Ergebnis vor. plu
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