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Der Sound des Erhabenen

Heiner Müllers gesammelte Gedichte: eine ungewollte Beschädigung  ■ Von Peter Laudenbach

Bevor Heiner Müller zum intelligentesten Entertainer avancierte, den der Kulturbetrieb derzeit zu bieten hat, galt er als der bedeutendste Gegenwartsdramatiker des Landes. Seine Gedichte wurden als Gelegenheitswerke respektiert, niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn für einen genuinen Lyriker zu halten. Das verschob sich spätestens, als in den achtziger Jahren seine Theatertexte mit souveräner Gleichgültigkeit die formalen Konventionen der Gattung ignorierten: Es waren „Texte“, die in irgendeiner Weise in szenische Vorgänge übersetzt werden konnten. Damit änderte sich auch der Status der Gedichte, die plötzlich gleichberechtigt neben den „Theaterstück“ genannten Texten auftauchten. Zu der Verwischung der Gattungsgrenzen trug die Form der Werkausgabe bei, indem sie Gedichte und kurze Prosatexte verstreut zwischen die Stücke stellte. Angesichts dieser Strategie verwundert es, daß nun in einem wunderschön ausgestatteten Band des engagierten Berliner Alexander Verlages Müllers gesammelte Gedichte erscheinen. Das Buch versammelt viele bekannte und einige bisher nicht publizierte Texte und hat eine spannende, wenn auch nicht immer genußreiche Lektüre zu bieten.

Was schnell und ziemlich unangenehm auffällt, ist der Tonfall, der sich durch die aus vier Jahrzehnten stammende Lyrikproduktion zieht: das Pathos und der unübersehbar vorgebrachte Anspruch auf Klassizität. Die frühen Gedichte sind deutlich vom Versuch geprägt, den „weisen“ Duktus später Brecht-Gedichte zu imitieren, Dokumente der Selbstreflexion und einer heute befremdend wirkenden Sicherheit, im Besitz der ideologisch verbürgten Wahrheit zu sein. In den letzten Gedichten wird mit dieser Sicherheit, dem „Besitz der Wahrheit“, gebrochen. Seltsamerweise bleibt in dieser Abrechnung der Tonfall erhalten. Immer spricht jemand, der sich in der Pose des Wissenden, des überlegenen Analytikers gefällt. Es ist eine Pose, die darauf zielt, den Leser einzuschüchtern.

Das Merkwürdige des immer etwas feierlichen Sprechens ist, daß es beliebig eingesetzt werden kann: Bei Müller braucht jede Banalität den Sound des Erhabenen. Noch private Notizen kommen nicht ohne Anspielung auf die Katastrophen der Menschheitsgeschichte aus; die Abgründe der Epoche lauern selbst im Whiskyglas, aus dem der Dichter im Flugzeug der Inspiration schlürft: „MANCHMAL WENN ICH MEINE PRIVILEGIEN GENIESSE/ Zum Beispiel im Flugzeug Whisky von Frankfurt nach (West) Berlin/ Überfällt mich was die Idioten vom SPIEGEL meine/ Wütende Liebe zu meinem Land nennen/ Wild wie die Umarmung einer totgeglaubten/ Herzkönigin am Jüngsten Tag.“ Das Manöver, die DDR als „Herzkönigin“ zu verkitschen, ist bemerkenswert, aber daß die „Umarmung“ für den „Jüngsten Tag“ aufgehoben werden soll, spricht für den ungetrübten Realitätssinn des Autors: Vor der Auferstehung will er sich die Braut lieber vom Leib halten, und damit ist er unserer ungeteilten Sympathie sicher.

Peinlich wird der feierliche Tonfall, wenn die in Marmor gehauene Sprache nur schlecht zudecken kann, daß dem Autor zum Thema nichts einfällt. Grotesk etwa wirkt das verdeckt ironische Huldigungsgedicht auf den mittelmäßigen Schauspieler und Brecht-Schwiegersohn Ekkehard Schall, einen Doyen des DDR- Theaters. Die byzantinische Floskel „Schall... den größten Schauspieler den ich gesehen habe“ kann noch als lässig absolvierte Pflichtübung durchgehen; ernst nehmen kann sie nur, wer Schall nie spielen sah. Lustiger wird es zum Schluß des Gedichts: „Denn die Wirklichkeit muß sichtbar gemacht werden/ Damit sie verändert werden kann/ Aber die Wirklichkeit muß verändert werden/ Damit sie sichtbar gemacht werden kann.“ Dialektik ist, wenn sich die Katze in den Schwanz beißt. Die letzten beiden Zeilen verwenden in Großbuchstaben einen beliebten, immer wieder einmontierten Textbaustein Müllers: „UND DAS SCHÖNE BEDEUTET/ DAS MÖGLICHE ENDE DER SCHRECKEN.“

Dieses Montageverfahren ist interessant, weil es die Zeilen, die zuerst in Müllers Gedicht „Bilder“ auftauchten, kaltblütig banalisiert. In diesem Gedicht, das in nuce Müllers Ästhetik formuliert und in bewunderungswürdiger Verdichtung Positionen des jungen Autors festhält, die ihn während seines gesamten Werkes beschäftigen, reagieren die zitierten Zeilen auf Rilkes „1.Duineser Elegie“ („Denn das Schöne ist nichts/ als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen,/ und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,/ uns zu zerstören.“) Indem Müller die Zeilen in seine Verbeugung vor Schall einfügt, macht er sie zu Phrasen. Wer sie so gelesen hat, liest das „Bilder“-Gedicht anders: Das zynisch eingesetzte Pathos beschädigt die verknappte Reflexion des frühen Gedichts.

Das gegenseitige Beschädigen der Texte erlebt man nicht nur bei solchen Banalisierungen einst kraftvoller Zeilen. Der Pathos-Sound ist nur in kleinen Dosen erträglich und wirkungsvoll, bei Überdosierung entsteht kein Rauscheffekt, sondern nur ein leichtes Unwohlsein, ein schaler Geschmack und der Wunsch, dieses erhabene Sprechen gegen entspanntere Tonfälle einzutauschen. Gerade wegen dieses Abnutzungseffekts empfiehlt es sich, die gesammelten Gedichte am Stück zu lesen: Sie machen durch Potenzierung ihre Schwäche offensichtlich. Das ist nicht nur eine formale Angelegenheit. Das Pathos wird als Sichtblende eingesetzt, um die Ideologie vor den Irritationen der Wirklichkeit zu schützen. Es ist befreiend, bei der Lektüre zu erleben, wie ein großangelegtes ideologisch-literarisches Unternehmen in sich selbst zusammenkracht. Deprimierend wird diese Erfahrung allerdings durch die Erinnerung an Müllers Theaterstücke und seine Inszenierung Mauser am Deutschen Theater. Dort war das Pathos keine Phrase, sondern wurde in jedem Augenblick durch die Dichte der Reflexion und die Bereitschaft, die Widersprüche der kommunistischen Geschichte mit schmerzhafter Schärfe anzunehmen, ermöglicht. Müllers Gedichte machen den Schmerz zur Floskel und das Leiden an den eigenen Widersprüchen zum Geschwätz, sie ziehen die dramatische Produktion des Autors in Mitleidenschaft und setzen sie dem Verdacht aus, mit den gleichen Mitteln zu arbeiten. Man hat unwillkürlich den Wunsch, diese Kunstwerke vor den selbstgefälligen Posen ihres Autors zu schützen.

Heiner Müller: Gedichte. Alexander Verlag, Berlin, 110Seiten, geb., 28DM.

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