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Echtes Sein, falscher Schein

Goethe & Schiller: Ein ehrgeiziges Klassikerprojekt zur documentaIX in Kassel  ■ Von Martin Krumbholz

Eugenie, des Herzogs natürliche, das heißt außereheliche Tochter, ist fast noch ein Kind. Vom König anerkannt, in den Adelsstand erhoben zu werden, das heißt für sie soviel wie: mit Schmuck behängt zu werden. Seinen Launen (ein bißchen) nachgeben zu dürfen. Mehr Rechte womöglich zu haben als Verpflichtungen. Der Fels, der am unsichtbaren seidenen Faden über der Szene schwebt, wird nicht auf Eugenie fallen. Aber die Gefahr ist groß, daß Eugenie sich ihrer nicht bewußt ist.

Der erste Akt von Goethes Trauerspiel Die natürliche Tochter spielt auf einem Jagdausflug. Die beiden Männer, der König und der Herzog, brauchen sich nicht umzuschauen. Sie sind sich, naturgemäß, bewußt, welcher Gefahr sie sich tagtäglich in diesen schwierigen Zeiten aussetzen — eine Revolution, ein Putschversuch steht bevor. Eugenie aber, die Hochbegabte, Temperamentvolle, stürzt mit ihrem Pferd von einer Felsklippe. Sie wird für tot gehalten. Die Zuschauer erleben den Unfall simultan mit: Man sieht im Bühnenhintergrund ein ferngesteuertes Miniaturpferdchen samt Reiterin einem Abgrund entgegenjagen und hinabstürzen. Doch Eugenie ist nicht tot. Auch später, wenn die Intriganten dem entsetzten Herzog vorgaukeln, seine Tochter sei erneut gestürzt und nun wirklich tot, ist sie es nicht: Sie ist auf Geheiß ihres „trüben“ Bruders entführt worden, mit der Absicht, sie aus dem inneren Zirkel der Macht zu entfernen, ihr jeglichen Zugriff auf Privilegien zu verwehren.

Das Motiv des Schein-Todes spielt in beiden Stücken, die dieser ungewöhnliche Abend zusammenfaßt, eine wesentliche Rolle: Goethes Natürliche Tochter (uraufgeführt 1803), Schillers Fragment Demetrius, an dem der Dichter bis zu seinem Tod 1805 arbeitete und von dem nur anderthalb Akte und einige verstreute Szenen ausgearbeitet sind. Dieser sogenannte Demetrius, ein Waisenknabe von unbestimmter Herkunft, behauptet frech, der legitime Sohn des Zaren Iwan zu sein, jener Dimitri eben, von dem es heißt, er sei schon als Kleinkind ermordet worden. Aber der Scheintote ist wirklich tot; der angebliche Demetrius ein falscher. Echt oder falsch: Der Mann hat Energie und Charisma, kein geborener Herrscher, aber ein zum Herrschen Geborener. Dieser Pseudo-Zar stellt eine Armee auf, setzt den Usurpator Boris Godunow ab und sich an dessen Stelle. In Schillers Entwurf glaubt die Fälschung drei Akte lang an ihre Echtheit. So produziert man Fallhöhe. Denn im dritten Akt wird der Mörder des echten Zaren auftreten und den Hochstapler entlarven. Die Enthüllung pervertiert einen „guten“ falschen Zaren in einen schlechten falschen: Nicht die falsche Geburt verdirbt den Carakter, sondern das Bewußtsein davon.

Es macht Sinn, die beiden Texte zu koppeln, denn sie behandeln ähnliche Fragestellungen. Aber die Tendenzen, die sie darstellen, sind einander genau entgegengesetzt. Die natürliche Tochter beschreibt eine zentrifugale Bewegung: Eugenie entfernt sich, anfangs unfreiwillig, aus dem Zentrum der Macht in die Peripherie (eine Hafenstadt, in der sie eingeschifft und in die Verbannung geschickt werden soll). Am Ende bescheidet sie sich mit einem Glück im Winkel und wartet auf beßre Zeiten. Das ist Goethes Antwort auf die Französische Revolution. Demetrius beschreibt eine zentripedale Bewegung: von Polen nach Moskau; von der völligen Anonymität direkt auf den Zarenthron. Die natürliche Tochter ist ein politikfeindliches Stück, Demetrius ein hochpolitisches. Goethe verflucht in schönen Versen den hohlen Schein der Macht; Schiller analysiert ihn. Beide sehen freilich in der Geschichte eine Art Naturkreislauf, der am Ende immer nur das Alte hervorbringt.

Frank Hoffmann, der Regisseur der Natürlichen Tochter, hat diese Tendenz durch signifikante Doppelbesetzungen unterstrichen. Die beiden Teile des Dramas — im Zentrum und an der Peripherie spielend — werden von denselben Schauspielern bestritten: auf der einen Seite das Trio der Macht, König/Herzog/Sekretär; auf der anderen der Gerichtsrat (den Eugenie schließlich heiratet), der Mönch (den sie um Rat fragt), der Gouverneur (den sie, vergeblich, um Hilfe bittet). So entsteht der Eindruck eines bis ins letzte Detail abgekarteten Spiels: ein feingesponnenes Intrigennetz, aus dem es für Eugenie überhaupt kein Entrinnen gibt.

Goethes Text ist der kurzweiligste nicht, aber Hoffmann hat recht: Wenn man ihn aufführt, darf man ihn nicht wie einen Comic-Strip herunterreißen; man muß die Geduld aufbringen, die zugleich karge und umständliche Handlung sich entfalten zu lassen und vor allem Eugenies Psychologie, ihren noch kindlichen Ehrgeiz zum Blühen zu bringen. Der Schauspielerin Eva-Maria Keller gelingt es, die ungebrochenen Leidenschaften und Träume dieses Kindes zu entfalten, in eine zwingende Gebärdensprache zu übersetzen. Nach der Pause nimmt allerdings die Dichte und Intensität der Aufführung etwas ab.

An den Bühnenbildern, die der Stuttgarter Künstler Ben Willikens entworfen hat, liegt das nicht. Der gigantische Schiffsbug, der sich im vierten Akt ins Bild schiebt und dessen funkelndes Bullage zu leben scheint wie das Auge eines bösen Tieres, ist staunenswert. Die Schiffshupen, die in die Musikcollage gemischt sind, korrespondieren mit dem Bild. Willikens' Bilder stülpen sich nicht selbstgefällig über den Text, erzeugen vielmehr mit ihrer Liebe zum Detail jenen ironisch gebrochenen Symbolismus, der Hoffmanns kluge Lesart des Trauerspiels unterstützt.

Zu fortgeschrittener Stunde dann ein fulminanter Epilog. Dagmar Schlingmann hat auf der Hinterbühne des Opernhauses (die Zuschauer sitzen jetzt auf der abgestuften Bühne) das Demetrius-Fragment inszeniert. Auf die verschwenderische Bildertrunkenheit des Goethe- Parts folgt ein gewissermaßen auf Geste und Rhetorik reduzierter Schiller-Teil (an dessen Glanz freilich Susan Bielings Kostüme großen Anteil haben). Das schier atemlose Tempo, mit dem Schlingmann die vorhandenen Parteien des Dramas spielen läßt, spiegelt die Dynamik und die eruptive Gewalt der in der Vorlage abgebildeten Prozesse. Schiller stellt hier ja nicht nur die Frage nach der Legitimität einesbestimmten Herrschers, sondern die viel weitreichendere nach der Legitimität von Macht überhaupt. Schlingmann und ihr Ensemble vermitteln eine Vorstellung davon, was uns mit diesem Demetrius verlorengegangen ist: ein Polit-Thriller, der etwa die Maria Stuart auf den Rang einer zuckersüßen Gute-Nacht-Geschichte verweist.

Johann Wolfgang Goethe: Die natürliche Tochter. Regie: Frank Hoffmann, Bühnenbild: Ben Willikens, Kostüme: Susan Bieling, mit Joachim Berger, Helmut Mooshammer, Vincent Leittersdorf, Eva-Maria Keller, Sabine Wackernagel, Carlo Ghirardelli.

Friedrich Schiller: Demetrius. Regie: Dagmar Schlingmann, Bühne: Ben Willikens, Kostüme: Susan Bieling, mit Ulrich Kielhorn, Susanne Häusler, Heidi de Vries. Weitere Aufführungen erst in der nächsten Spielzeit.

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