piwik no script img

Das dritte Geschlecht

■ Ein Buch von Magnus Hirschfeld über das Leben der Homosexuellen in Berlin um die Jahrhundertwende

Wer das Riesengemälde einer Weltstadt wie Berlin nicht an der Oberfläche haftend, sondern in die Tiefe dringend, erfassen will, darf nicht den homosexuellen Einschlag übersehen.« Der dies schrieb, hatte bereits um die Jahrhundertwende den authentischen Blick fürs »warme Berlin«. Als Preußens Metropole längst zum heimlichen Eldorado der Homosexuellen avanciert war, trat der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868-1935) auf den Plan, um für die gesellschaftliche Anerkennung der »Urninge«, wie sich die Homosexuellen seinerzeit selbst bezeichneten, zu streiten.

Bereits 1897 gründete der »Schwulenaktivist« zu Urgroßvaters Zeiten das »Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee«, die erste Schwulenorganisation in Deutschland. Neben der Abschaffung des Paragraphen 175, der damals noch homosexuelle Handlungen generell unter Strafe stellte, lag Hirschfeld die Anerkennung der Homosexualität als biologischer und damit unanfechtbarer Variante menschlicher Sexualität am Herzen. Ein mutiges Wagnis seinerzeit, hatten es Schwule und Lesben nach allgemeiner Anschauung doch gerade mal von »Verbrechern« zu »widernatürlichen«, wenn auch bemitleidenswerten »Kranken« geschafft.

Wie die Faust aufs Auge der zeitgenössischen Betrachter wirkt da Hirschfelds 1904 erschienenes Buch Berlins drittes Geschlecht, das der Verlag Rosa Winkel in erweiterter Fassung neu aufgelegt hat. Wo andere dem voyeuristischen Leser das »widernatürliche Laster der Großstadt« präsentieren, schildert Hirschfeld das »Leben, Leiden und Treiben« der Berliner »Urninge« mit einer Selbstverständlichkeit, die heute verblüfft. Anschaulich beschreibt er Alltag und Subkultur als Insider. Die Namen der Kneipen, um 1900 etwa zwanzig an der Zahl, oder gar Identitäten werden ebensowenig preisgegeben, wie alles, was an Erotik oder Sexualität erinnern könnte, tunlichst vermieden wird. Öffentliche Moral, Zensur und Repression waren schließlich streng im wilhelminischen Deutschland. Der Metropolen-»Urning« konnte sich im realen Leben aber durchaus seinen Platz im Gestrüpp der bürgerlichen Doppelmoral sichern. Sei es im rotlichtigen Dunkel der Kaschemmen, in gepflegter Salonrunde gutsituierter Herren oder des Nachts auf den verschlungenen Pfaden des Tiergartens.

Wie keine andere Stadt im Kaiserreich erlaubte Berlin den auf Respektabilität angewiesenen Homosexuellen die Tarnung zwischen »Berufsmensch« und seinen Neigungen frönendem Nachtschwärmer. Die Subkultur vereinte, was tagsüber voneinander getrennt war. Da war der »hoch angesehene ‘urnische‚ Rechtsanwalt« aus dem Potsdamer Viertel, der abends in eine Kaschemme in der südlichen Friedrichstadt abtaucht und sich mit anderen »Berliner Apachen« die Nächte um die Ohren schlägt. Oder der adlige Offizier, der sich, mit Schiebermütze und abgewetzter Jacke getarnt, in den einschlägigen Destillen des zwielichtigen Scheunenviertels vergnügt.

Auf dem Soldatenstrich waren Uniformen dagegen erwünscht. Neben London hat nur Berlin »jeden Abend solche Auswahl an Soldaten verschiedener Waffengattungen« zu bieten, schreibt Hirschfeld nüchtern. Militär- und Polizeipatrouillen blieben machtlos. Wo ein Revier aufflog, war die nächste Kaserne nicht weit. Und mit denen war das kaiserliche Berlin ja nur so gespickt.

Die öffentlichen Badeanstalten der Hauptstadt entpuppten sich als weitere Nische homosexuellen Daseins. Laut Hirschfeld konnte Berlin zwar nicht mit dem Angebot in St. Petersburg oder Wien mithalten, doch gab es immerhin vier Badehäuser, »die nur von homosexueller Kundschaft leben«.

Die Fangemeinde der »Kaffeegesellschaften« betuchterer Herren hatten es dem Schwulenforscher spürbar angetan. Ein »Schnattern und Plappern, ein Lachen, Juchzen und Kreischen in so verwirrendem Durcheinander« sei da zu vernehmen, »daß einem männlichen Gaste angst und bange werden kann«. Sich selbst dürfte »Tante Magnesia«, wie Hirschfeld in »Urnings«-Kreisen zuweilen genannt wurde, wohl kaum gemeint haben. Vielmehr jene um ihr respektables männliches Image besorgten Homosexuellen, die sich vehement von den »Effeminierten« abgrenzten. Und Hirschfeld setzt noch eins drauf, denn nach Kaffee und Kuchen »werden die mitgebrachten Handarbeiten hervorgeholt, man häkelt, strickt, stickt und näht«.

Der Typ des feminin wirkenden Schwulen reizte Hirschfeld als Wissenschaftler. Er erschien ihm der anschauliche Beweis zu sein für seine später formulierte Theorie von den Homosexuellen als »drittes Geschlecht« oder »sexuelle Zwischenstufe«. Was die Natur selbst einrichtet, so seine aufklärerische Logik, könne auch nicht diskriminiert werden. Bis an sein Lebensende blieb er bei seiner Theorie und letztendlich auf ihr sitzen. In manchen Schwulenblättern erntete er für das Tuntenklischee Spott und teilweise erbitterte Anfeindungen.

Mit Anfeindungen ganz anderer Art hatten sich derweil die gewöhnlichen Homosexuellen herumzuschlagen. Eine wahre Plage waren die sogenannten »Rupfer«, die sich auf Erpressung spezialisiert hatten. Ein Wink mit dem Paragraphen 175 und damit die Vernichtung der bürgerlichen Existenz garantierten den Erpressern reichhaltige Einkünfte. Auch antischwule Gewalt an Treffpunkten Homosexueller gehörte um die Jahrhundertwende zum bekannten Phänomen. »Nicht selten«, so schreibt Hirschfeld über den Tiergarten, »tönt in das Juchzen der Jungen ein greller Schrei, der Hilferuf eines im Walde Beraubten oder Gemißhandelten.«

Wer die Situation der Homosexuellen verstehen will, darf nicht das Unrecht und vor allem das Unheil übersehen, das ihnen mit dem Paragraphen 175 angetan wird. So hätte Magnus Hirschfeld seinen wohlwollenden Streifzug durchs homokulturelle Berlin der Jahrhundertwende durchaus auch beenden können. Er tut es mit dem Brief einer verzweifelten Mutter: »Ist Hoffnung vorhanden, daß der genannte Paragraph im Laufe dieses Winters im Reichstag zur Lesung gelangt, und glauben Sie an die Möglichkeit der Aufhebung dieses Gesetzes?« Hirschfeld hat die Frage 1904 vermutlich bejaht. Er konnte ja nicht ahnen, daß der Schwulenparagraph 175 erst 1992 aus dem Strafgesetzbuch getilgt werden wird. Jürgen Bieniek

Magnus Hirschfeld: Berlins drittes Geschlecht. Mit einem Nachwort von Manfred Herzer. 1991, Verlag Rosa Winkel, 197 Seiten mit 50 Abbildungen, gebunden, 29,80 DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen