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Sie hätte auch auf Wasser gewonnen

■ Steffi Graf besiegt in einem Regenmarathon die Weltranglisten-Erste Monica Seles sensationell klar mit 6:2 und 6:1, vermasselte ihr den Grand Slam und holt sich ihren vierten Wimbledon-Titel

Berlin (dpa/taz) — Fakt ist: Steffi Graf hat zum vierten Mal Wimbledon gewonnen. Einig ist man sich auch, daß sie dies auf brillante Weise tat. Fehlerfrei fegte sie die Weltranglisten-Erste Monica Seles mit 6:2 und 6:1 vom Rasen und zeigte Tennis, daß Experten der Mund offenstehen blieb.

Doch wie konnte es dazu kommen, daß Graf die Weltranglisten- Erste, die seit 18 Monaten das Frauentennis dominierte, derart niederschlagen konnte? Da muß doch mehr dahinter stecken als Lust am Sieg! Eine Mutmaßung, der sogleich der Blick in die Abgründe der menschlichen Seele folgte. Motiv Rache, so ist sich der 'Diaro 16‘ (Spanien) sicher: „Graf nahm Rache. In einer sensationellen Demonstration verabreichte sie der Serbin eine Tracht Prügel.“ Selbiges ahnt der 'Corriere della Sera‘ (Italien): „Steffi hätte auch auf Wasser gewonnen, so stark war ihre Entschlossenheit, ihre Wut, ihr Wille zum Sieg.“

Der 'The Mail on Sunday‘ steht mehr auf Neid und Eifersucht: „Steffi Graf lieferte die beste Vorstellung ihres Lebens, um die Grand- Slam-Hoffnungen von Monica Seles zu beenden.“ Tatsächlich schickte sich Seles nach dem Gewinn der Australian und French Open an, auch Wimbledon, die U.S. Open und damit den Grand Slam zu holen — wie einst Steffi Graf 1988.

Die römische 'La Rebublica‘ entschied sich für die Psycho-Nummer. Ihr Reporter hatte sein analytisch geschultes Adlerauge auf die VIP- Lounge gerichtet und konnte uns mitteilen: „Bravo, Steffi ist erwachsen geworden. Sie muß sich völlig befreit gefühlt haben durch die Abwesenheit ihres Vaters auf der Tribüne.“ Die britische Presse, schwer gebeutelt von den Skandalen des Königshauses, erhob die vaterlose Steffi kurzerhand zur „Monarchin des Centre Courts“ ('Sunday Mirror‘), während der 'Sunday Express‘, noch unter dem Eindruck des Umweltgipfels in Rio, hart an der Naturkatastrophe vorbeischlidderte: „Die Stop-and-go-Steffi schwemmt Seles vom Court: Sie loderte in der Dunkelheit, als sie ihren vierten Titel nach einem bizzaren Regen-Finale nach 5:21 Stunden gewonnen hatte.“

Doch war es weniger das Grafsche Wetterleuchten, noch die vielen Regenpausen (reine Spielzeit: 59 Minuten), die Monica Seles verwirrten. Vielmehr schien die temperamentvolle Jugoslawin mehr mit dem Druck auf ihre Lippen als mit dem ihrer Vorhand beschäftigt zu sein. Denn die für ihr Stöhnen und Quietschen berüchtigte Spielerin hatte nach all den Querelen um ihren Lärmpegel ein Schweigegelübde abgelegt. Fortan, so gelobte sie vor dem Finale, soll kein Ton mehr über ihre Lippen dringen. Nicht mehr länger wollte sie der britischen Presse als quietschende Schweine-Karikatur dienen.

Doch auch die Stille blieb nicht unkommentiert: „Großartig, Steffi bringt Seles zum Schweigen“, jubilierte das 'Journal du Dimanche‘. Einen Zusammenhang zwischen Stille und drucklosem Spiel der Seles machte 'The Mail on Sunday‘ aus: „Am Tag, an dem die 18jährige Jugoslawin aufhörte zu stöhnen, wurde sie in denkwürdiger Weise hinweggefegt.“ Seles bestreitet dies: „Daß ich nicht gestöhnt habe, war nicht der Grund für meine Niederlage.“ Überhaupt gab sich Seles gegenüber ihrer Erzrivalin nicht die Blöße der schlechten Verliererin: „Steffi hat exzellent gespielt“, lobte die 18jährige. Eine kleine Spitze jedoch konnte sie sich doch nicht verkneifen, als sie betonte, daß „ich persönlich nie geglaubt habe, den Grand Slam gewinnen zu können“.

Steffi Graf hingegen ließ sich von ihrem Triumphgefühl hinreißen. Die Genugtuung war ihr anzusehen, als sie Seles trocken die Hand hinstreckte, um sich die nächste Viertelstunde allein vom Publikum feiern zu lassen. Kein Wort mehr an die applaudierende Gegnerin, kein Blick, als sie gemeinsam den Court verließen. „Es ist ein großartiges Gefühl und eine große Genugtuung, gegen die Nummer eins auf diese Weise zu gewinnen“, gab sie zu. Natürlich habe sie „keinesfalls mit einem 6:2, 6:1 gerechnet, selbst auf Gras nicht“. Doch die Taktik der Brühlerin auf ihrem Lieblingsbelag ging auf: Da auf dem mitgenommenen Wimbledon-Rasen die Bälle nicht so hoch abspringen, hatte Seles Mühe, auf die unterschnittenen Rückhand- Schläge der Deutschen Druck auszuüben. Immer wieder landeten ihre Schläge im Netz, und zu allem Unglück kam ihr erster Aufschlag nur gelegentlich. So beendete Steffi Graf das einseitige Match standesgemäß mit einem As — und uns bleibt nur eine Forderung: Laßt die Seles wieder kreischen! miß

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