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Die Wünschelrutennasen

Ethische Normen in der Politik lassen sich nicht einklagen, sie müssen institutionalisiert werden  ■ VON EKKEHART KRIPPENDORFF

Daß nun auch der Bundespräsident zum Kritiker der perspektivlosen Machtversessenheit des Parteienregimes geworden ist, böte genügend Stoff zu bitter-ironischer Polemik, ist doch auch er ihr Kind und hat er sich doch auch zielstrebig dessen Karriereleitern bedient, um in das höchste Staatsamt zu gelangen. Nun, da er ganz oben angekommen ist, kann er es sich leisten, seinen zahllosen Steigbügelhaltern seine wahre Meinung über sie zu sagen: Er verachtet sie.

Diese Verachtung aber teilt er mit der politischen Klasse insgesamt — mit dem letztlich unerheblichen Unterschied, daß letztere sie auch noch für das Wahlvolk hat, dessen Zustimmung sich die Parteien ja in sogenannten Wahlkämpfen gesichert haben, deren intellektuell-programmatisches Niveau noch weit unter ihrem ohnehin schon sehr bescheidenen eigenem Niveau liegt. Aber darum soll es hier nicht gehen, sondern ernsthafter um die unter anderen von Antje Vollmer eingeklagte politische Ethik beziehungsweise deren Fehlen bei denen, die für die Politik in unseren Gesellschaften zuständig sind, die die Politik als Beruf betreiben.

Die Griechen entdeckten die Institution Politik

Das Problem ist so alt wie die Politik selbst, die ihrerseits — der Name selbst enthält den Ursprung — eine Entdeckung der in der Polis organisierten Griechen war: das Bewußtsein nämlich, daß es in der Gemeinschaft eine spezifische Sphäre oder Ebene gibt, in und auf der das Gemeinwohl diskutiert, artikuliert und darüber nach bestimmten Regeln dann auch entschieden wird, und daß diejenigen, die für diese Aufgabe in Frage kommen, auch bestimmte Qualifikationen und Kriterien erfüllen müssen (in der Blütezeit der Polis waren das, sehr verkürzt, alle freien Männer). Die Geschichte der modernen Verfassungsstaaten, die weit in die frühe Neuzeit zurückreicht, aber mit der Französischen Revolution ihren ersten Höhepunkt erreichte, ist eine Geschichte auch und vor allem von Versuchen, politische Klassen zu konstruieren, die sowohl das Gemeinwohl zu diskutieren und in öffentlicher Auseinandersetzung zu formulieren in der Lage wären als auch Regierungen zu bilden und diese auf die Exekution mehrheitlich getroffener Entscheidungen zu verpflichten — auf Recht und Gesetz. Sie ist die zwingende Folge der Entmythologisierung traditioneller Herrschaft, von Gottesgnadentum und regierendem Adel, dessen behauptetes blaues Blut sich unter der Guillotine als menschlich-rotes erwiesen hatte. Seitdem steht die Frage nach der politischen Ethik einer prinzipiell nicht mehr nach Standes- oder sozialen Klassenkriterien zu rekonstruierenden politischen Klasse auf der Tagesordnung.

Machtlust war schon für Goethe ein Thema

Der alte europäische Adel hatte noch eine Standesethik, übte seine Privilegien und seine Macht aus im Rahmen tradierter, ungeschriebener, aber nichtsdestoweniger oft sehr streng beachteter Regeln, Codices und Normen, über deren Einhaltung die Standesgenossen im wohlverstandenen Eigeninteresse der Absicherung ihrer Herrschaftslegitimität selbst wachten. Erst als diese von innen her morsch wurden, als Korruption und Luxus die traditionelle Legitimität zu bloßer Machterhaltungslegalität verkommen ließ, wurde die bürgerliche Revolution möglich und dann auch wirklich. Elemente jener Adels- Ethik fanden sich noch lange danach in der Standesethik der europäischen Offizierskorps, und eine späte, tragische und letzte Erscheinungsform können wir in den standesethischen Motivationen des deutschen Widerstandes im Kreisauer Kreis finden, dessen Angehörige, jenseits aller legitimen Kritik an ihren konkreten Ordnungsvorstellungen, den größten menschlichen und damit zugleich in einem ernsthaften Sinne politischen Respekt verdienen.

Als der junge Dichter und Bürgerssohn Johann Wolfgang von Goethe 1775 von Frankfurt nach Weimar ging, um dort bewußt in das politische Geschäft, die „Weltrolle“, einzusteigen, ging es ihm auch darum, in ahnender Antizipation dessen, was dann in der Französischen Revolution passierte, eine neue Ethik des Politischen, des Regierens und der Machtausübung zu entwickeln. Mit der Erziehung seines Fürsten, Carl Augusts, zielte er auch auf die Erziehung der politischen Klassen seiner Zeit und künftiger Politiker-Generationen. An sich selbst beobachtete er die Verführung, die in den Privilegien des Regierens, der Machtausübung angelegt ist, und kam zu der bleibenden Erkenntnis, daß nur derjenige Macht über Menschen auszuüben legitimiert sei, der in höchstem Maße allen persönlichen Ambitionen und Befriedigungen zu entsagen in der Lage sei. „Niemand als wer sich ganz verleugnet ist wert zu herrschen und kann herrschen“, notierte er sich in sein Tagebuch, und seinem Herzog schrieb er in ein politisches Rechenschaftsgedicht („Ilmenau“): „Allein wer andre wohl zu leiten strebt, muß fähig sein, viel zu entbehren.“ Goethe nahm die Vorstellung vom Gemeinwohl, das „dem Volke dienen“ sehr wörtlich und bestand auf eine sehr stille, aber strenge Weise darauf, daß dies die Maxime politischer Ethik generell zu sein habe. Im Kleinstaat Weimar wollte er ein Modell für gutes Regieren schaffen und mit der Setzung neuer, anderer Prioritäten — statt Machtpolitik und Soldatenspielerei eine gute Verwaltung, Straßenbau, Gewerbeförderung und nicht zuletzt die Hebung von Bildung und die Förderung von Kultur und Wissenschaft — zugleich ein politisches Personal heranbilden, das seine Befriedigung im Dienen findet, dessen Ethik im Verzicht, in der „Entsagung“ von persönlicher Machtausübung und materieller Bereicherung besteht. An Goethes politische Ethik zu erinnern — oder sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen — ist gerade heute alles andere als ein historisch-nostalgischer Hinweis, zumal sie in einem weit über das Politische im engeren Sinne hinausgehenden Zusammenhang steht, zum Beispiel mit seinem bewußt antimodernistischen Verständnis von Wissenschaft und seinem Respekt vor der nicht zu beherrschenden, vielmehr zu pflegenden Natur.

Gewalt, Rang, Geld, Einfluß, Talent...

Wem es ernst ist mit der Rede vom „Umdenken“ und der Forderung nach radikalen Veränderungen unserer überentwickelten industriekapitalistischen Lebensweise, der wird sich mit Gewinn bei und an Goethe orientieren können.

Was Goethe an der Französischen Revolution vor allem kritisierte, war die Heraufkunft einer neuen politischen Klasse, die zwar die Privilegien der alten Adelsherrschaft zerbrochen hatte, sie aber nun — durch Volksverführung und Manipulation — durch ihre eigene, noch rücksichtslosere Herrschaft ersetzte: die der Berufspolitiker. In der Fabel-Figur des „Reineke Fuchs“, dem skrupellosen Aufsteiger, hat er sie gegeißelt. Aus dem Feldlager vor Mainz schrieb er an Herder über die neuen „Propheten“: „Wo sich dieses Gezücht hinwendet, kann man immer im voraus wissen. Auf Gewalt, Rang, Geld, Einfluß, Talent pp. ist ihre Nase wie eine Wünschelrute gerichtet.“ Wir drücken das heute vornehmer und feiner aus — so etwa wie der Bundespräsident das soeben vorführte —, aber in der Sache ist das noch immer unser Problem.

In der Politik tummeln sich zig Lafontaines

Der Fall Lafontaine (ungeachtet der legitimen Vermutung, daß hier bewußt eine personalisierte Moral- Kampagne inszeniert wurde) ist dafür symptomatisch. Man mag diesen Fall drehen und wenden wie man will: daß der Mann seine Privilegien zumindest bis an die Grenze des rechtlich Zulässigen ausgeschöpft hat, daran besteht wohl kaum ein Zweifel, und insofern ist er das genaue Gegenteil von dem, was Goethe unter politischer Ethik verstand und auch selbst praktizierte. Aber Lafontaines sind sie alle: die einen mehr, die anderen weniger. Nur ist Moral in der Politik — die Kohärenz von ordnungspolitischer Programmatik und persönlichem Verhalten — rechtlich nicht einklagbar, und ebensowenig ist es eine politische Ethik.

Und doch: Die modernen Verfassungen, deren letztendlicher Zweck es war und ist, nach dem Ende vordemokratischer Standesethiken in der Politik den Rahmen festzulegen für die Rekrutierung politischer Klassen „aus dem Volke“, gingen auch aus von der richtigen Erkenntnis, „daß Macht korrumpiert“, daß also die Volksvertreter gewissermaßen vor sich selbst, vor ihrer eigenen Verführbarkeit durch die Macht und deren Privilegien geschützt werden müssen, eben weil die Verbindlichkeit ungeschriebener ethischer Normen zur Zügelung und Disziplinierung der Versuchungen, die mit der Zugehörigkeit zur politischen Klasse verbunden sind, nicht wiederherstellbar ist. Deshalb bedarf es der Institutionalisierung des Machtmißtrauens. Und wir alle kennen sie: sie besteht vor allem im Zwang zur periodischen Parlamentsauflösung, der Wahl. Damit schien, so die legitime Erwartung aller Verfassungsgeber, der Gefahr einer sich verselbständigenden Herrschaft ein effektiver Riegel vorgeschoben zu sein — sie konnte ja abgewählt werden. Wir alle wissen inzwischen — und das ist eine historische Erfahrung, die erst gemacht werden mußte —, daß das nicht genügt. Die Parteien wurden zu den Vermittlern des Volkswillens, die Volksvertreter zu organisierten Berufspolitikern, über Wahl und Wiederwahl entscheidet ihr Berufsverband und so weiter. Der völligen Abhängigkeit von der Partei versuchte das Grundgesetz mit Artikel 38 („an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“) eine notwendig hilflos gebliebene Norm entgegenzusetzen — eine ethische Norm, auch sie nicht einklagbar: der Berufspolitiker ist nicht „Vertreter des ganzen Volkes“, sondern nur seiner Organisation, und deren gemeinsamer Zweck ist Machtausübung, Regierungsbeteiligung, Job-Sicherung. Und es handelt sich um lukrative Jobs — oder doch um die Erwartung von mit der Zugehörigkeit zur politischen Klasse verbundenen lukrativen Privilegien und materiellen Absicherungen. Auf der Strecke der Karriereleiter des Berufspolitikers bleibt sein ursprünglicher Auftrag, die dienende, selbstlos-entsagende Sorge um das Gemeinwohl. Was Thomas Meyer (taz vom 26. Mai 1992) feststellte, darf da wiederholt und muß unterstrichen werden: „Anpassung an vorgegebene Regeln, riskantes Verhalten wird nicht prämiert“, die Herausbildung eines „hochgradigen internen Gemeinschaftsbewußtsseins“, eine „Lebenskultur“, die sich „stark von dem unterscheidet, was in der Gesellschaft gedacht wird“, eine „Medienorientierung“ zwecks „persönlicher Profilierung“, die Verweigerung einer „rückhaltlosen Thematisierung von langfristigen Problemen“ aus Angst vor der Nicht-Wiederwahl, von der die persönliche Existenz abhängt, weil der Berufspolitiker nichts anderes mehr kann, keine andere Qualifikation mehr hat als eben die der Politik — wer da herausfällt, fällt ins Leere, und sei es auch nur (sofern er materiell gut vorgesorgt hat wie ein Lafontaine) die Leere der Konfrontation mit der eigenen Bedeutungslosigkeit, mit der eigenen inneren Leere. Vor dieser Realität von Politik als Beruf versagt jeder Appell an die Ethik.

Soweit der — extrem verkürzte — Befund. Nachzudenken ist also über Möglichkeiten einer Rekonstruktion der politischen Ethik, der Rekonstruktion einer politischen Klasse, die den Aufgaben, die heute zu bewältigen sind — zu diskutieren, zu artikulieren, für die öffentliches Bewußtsein zu bilden sind und die zu Entscheidungen drängen —, besser oder überhaupt gewachsen ist. Das kann nur auf dem mühsamen Umweg über neue institutionelle Rahmenbedingungen geschehen, die die Bedingungen der Möglichkeit für einen solchen Prozeß abgeben.

Konfrontation mit eigener innerer Leere

Das bloße Lamentieren über den parteilichen Machtegoismus bleibt Rhetorik und wird bestenfalls noch schlimmere, nämlich populistische „Politiker“ anlocken, die sich nun erst recht die Politik- und Orientierungsfrustration der Menschen karrieristisch zunutze machen — in den USA repräsentiert der Outsider Perot heute eine solche Variante.

Wenn wir davon ausgehen, daß eine zentrale Kritik an der Rekrutierung der politischen Klasse darin besteht, daß Berufspolitiker eben nichts anderes mehr können und kennen als das politische Geschäft, vor allem — so Meyer — weil zunehmend „Menschen unmittelbar nach der Ausbildung Politik als Beruf wählen“, so bestünden Therapiemöglichkeiten darin, die Rahmenbedingungen zu ändern. Zwei solche Bedingungen könnten sein:

1. Voraussetzung der Kandidatur für jedes Wahlamt ist eine abgeschlossene Berufsausbildung und eine mindestens dreijährige Berufspraxis (schließlich gibt es heute für jede Position, auf die man sich bewirbt, Einstellungsvoraussetzungen). Damit wäre zu erreichen, daß Abgeordnete besser „in der ,Lebenswelt‘ verankert“ sind als vielmehr, wie Meyer feststellt, heute „nur schwach“. Sie wären dann auch nicht mehr um jeden Preis gezwungen, sich in ihren Meinungen, Urteilen und im Abstimmungsverhalten parteikonform zu verhalten, nur um die eigene ökonomische Existenz zu sichern. Die Möglichkeit, ja Erwartung einer Rückkehr ins „zivile“, das heißt ins Berufsleben lag der klassischen bürgerlichen Parlamentarismuskonzeption zugrunde — man wußte damals sehr gut, warum man keine politische Klasse wollte, die statt für die Politik zu leben von ihr lebte.

Um aber auch diese anzustrebende Rückkehr in den eigenen Beruf nicht der Gewissensentscheidung des Abgeordneten zu überlassen, hieße die zweite Bedingung: Nur einmalige Wiederwahl ist möglich — das heißt maximal acht Jahre in der Politik sind genug. Die meisten neuzeitlichen Verfassungen kennen Amtszeitbeschränkungen — in der Regel für das Staatsoberhaupt. Es gibt keinen vernünftigen Grund, solche zeitlichen Beschränkungen nicht auch für Abgeordnetenmandate und Regierungen geltend zu machen. Das zweijährige Rotationsprinzip der Grünen zu Beginn ihrer Partei- Karriere war ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Daß die Rotation nicht durchsetzbar war — oder nicht durchgehalten werden konnte —, verweist noch einmal auf die Problematik der Nicht-Einklagbarkeit ethischer Normen: sie bedürfen der Institutionalisierung des gesetzlichen Zwanges.

Wer nicht von Politik lebt, ist nicht korrupt

Die geforderte ethische Orientierung der politischen Klasse ist auch eine Funktion der zu fordernden — und institutionell zu fördernden, ja erzwingbaren — größeren personellen Flexibilität. Wo der eigendynamischen Verselbständigung ebenso wie der materiellen Selbstbedienung rechtlich einklagbare Grenzen gesetzt werden, könnte eine größere Nähe zur Gesellschaft und ihren realen Problemen ebenso wie, so paradox das klingen mag, eine Diskussion langfristigerer, grundlegender Orientierungen und der notwendigen Veränderungen auf den Weg gebracht werden. Wer nicht von der Politik leben muß, ist weniger korrumpierbar und potentiell unabhängiger im Urteil; wer nicht wiedergewählt werden kann, kann es sich erlauben, über den Wahltag hinauszudenken und dabei das Gemeinwohl und nicht primär das Parteiwohl im Auge zu haben. Es sollte sich gesellschaftlich über entsprechende gesetzlich-verfassungsrechtliche Regelungen das Bewußtsein durchsetzen lassen, daß zur Politik mehr und anderes gehört als opportunistischer Karriere- und Machtinstinkt und daß die Befriedigung durch das öffentliche Amt nicht materieller Natur ist, sondern eine höhere, eine sittliche Qualität hat — die des Dienens. Eine auf Frieden hin orientierte Gesellschaft braucht auch eine macht-entsagende politische Klasse — jedenfalls als Perspektive.

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