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In Norddeich vor und hinter dem Deich

■ Teil 2 der taz-Sommerserie von Lutz Ehrlich: Das Wattenmeer ist zum Baden so geeignet wie ein Spaten zum Schuheanziehen, und die Fischer proben den Aufstand für ihre geliebte Seezunge und gegen die verhaßten Eurokutter

Mit dem Auto kam in Ostfriesland der Umschwung: Der Urlaubsgast will heute mobil, sprich frei sein, um bei schlechtem Wetter Ausflüge unternehmen zu können, statt sich auf einer Insel zu langweilen. Erreicht wurde das Gegenteil: Bei Sonnenschein wälzt sich die Blechkolonne Richtung See. Auf der Landstraße nach Norddeich kippt — Gott sei Dank in entgegengesetzter Richtung — ein Opa vom Fahrrad und bleibt bewußtlos auf dem Pflaster liegen. Eifrige Helfer regeln sofort Bergung, Erstversorgung und Abtransport, noch eifriger sind nur Autofahrer mit Telefon an Bord, die endlich den tieferen Sinn dieser Anschaffung auskosten wollen: So viele Krankenwagen, wie sie binnen kürzester Zeit rufen können, gibt es in ganz Ostfriesland nicht.

Norddeich ist der erste Ort mit einem nennenswerten Strand hinter dem obligatorischen Deich. Selbst hier wurde der Strand künstlich angelegt, aber deshalb ist er nicht eingezäunt: Hinter dem Maschendraht befindet sich das Schwimmbad mit Meerwasserbassin für die Fußlahmen, denen der Weg bis in die offenen Fluten zu weit und zu schlammig ist: Das Wattenmeer ist zum Baden so geeignet wie ein Spaten zum Schuheanziehen, doch die Kundschaft hat sich dran gewöhnt und nimmt mit dem Sonnenbaden vorlieb oder geht gleich auf dem Deich spazieren. Von dort läßt sich der Blick auf ein „modernes Seebad“ genießen: Die Promenade hinter dem Deich ist aufgerissen, eine Investruine grüßt als Betonloch neben dem fast fertiggestellten neuen Therapiezentrum im postmodernen Provinzstil. Immer noch eine Perle der Baukunst gegen das „Haus des Gastes“ vor dem Schwimmbad, das so ostmäßig aussieht wie der Name verspricht. Selbst das Erfrischungsgetränk „Bluna“ — in den sechziger Jahren als Cola-Konkurrent gescheitert, hat hier auf den Preistafeln überlebt.

„Banane, Banane“, brüllt der Obstheini mit heiserer Stimme auf dem Fischmarkt, und schon fliegen sie ins Publikum, das sich an anderen Stränden ausführlich über die neuesten Produkte zur Fleckentfernung und Autopolitur informieren konnte: saubere Freizeit.

Dazu wollen die bemalten Bettlaken im Hafen nebenan so gar nicht passen: „Keine Verarschung“, hängt da neben „Keine Almosen“ an den Masten der Kutter, die so idyllisch aussehen, als wollten sie gleich zu einer historischen Regatta auslaufen. Auf dem Kai haben es sich die Fischer auf umgedrehten Kisten bequem gemacht. Ans Auslaufen denken sie nicht, es sei denn, um den Norddeicher Hafen zu blockieren: Aufstand ist angesagt, wegen der Fangquoten für Seezungen, gegen die EG und die Fischereiverbände, von den sie sich im Stich gelassen fühlen. Ganze drei Prozent der EG-Fangquote stehen den friesischen Fischern zu: zuwenig zum Leben, zuviel zum Sterben, die durchschnittliche Einkommenseinbuße der Fischer betrug schon im letzten Jahr 150.000 DM. „Den Reibach machen die Eurokutter“, sagt ein alter Fischer. Gemeint sind damit größere Schiffe, die zwar unter deutscher Flagge fahren, aber „da darf der deutsche Kapitän höchstens das Deck putzen“. Nichts gegen die Holländer, aber die sind eindeutig schuld an der Misere, weil sie viel höhere Fangquoten haben und noch dazu nicht so streng kontrolliert werden wie in Deutschland üblich.

Noch mußte wegen der fleißigen Holland-Fischer in keinem Restaurant entlang der Küste die Seezunge von der Speisekarte gestrichen werden, geben die Fischer kleinlaut zu. „Wir haben nichts mehr zu verlieren“, sagt der alte Fischer und grinst. Lutz Ehrlich

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