: ZWISCHEN DEN RILLEN
■ Kammermusik von Iannis Xenakis
Iannis Xenakis ist radikaler Konstruktivist. Seine Werke sind stets auf Zahlen gegründet, die er durch mathematische Operationen mit Funktionen aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Statik, der Thermodynamik und so weiter gewinnt — Musik als angewandte Mathematik. Immerhin hat er einst seinen Lebensunterhalt als Architekt verdient, indem er unter anderem für Le Corbusier entwarf, eine Tätigkeit, die er nicht als von der Musik getrennt auffaßte: so basierte der legendäre Phillips-Pavillon auf Berechnungen, die Xenakis bereits für sein Orchesterwerk „Metastasis“ verwendet hatte. Mit solchen Mitteln entwarf er Kompositionstechniken, die so kompromißlos auf die Momente der Tradition verzichteten, daß seine frühen Werke als Meilensteine in eine ferne, fremde Zukunft zu weisen schienen. Sie stehen noch immer völlig zu Recht in den Annalen der Neuen Musik.
Das Arditti-Streichquartett und der Pianist Claude Helffer haben auf zwei CDs ein Kompendium klein besetzter Kammermusik eingepielt. Es enthält sämtliche Streichquartette („ST/4“, „Tetras“, „Tetora“), sämtliche Solostücke für Klavier („Herma“, „Evryali“, „Mists“ „à R.“), Cello („Nomos Alpha“, „Kottos“), Violine („Mikka“, „Mikka ,S‘“), Bratsche („Embellie“), sowie das Violine-Klavier- Duett „Dikhthas“, das Streichtrio „Ikhoor“ und das Klavierquintett „Akea“. Da die Entstehungsdaten der Werke sich über den Zeitraum von 1955 bis 1990 erstrecken, läßt sich ein Überblick der verschiedenen Techniken und Duktus von Xenakis' Komponieren gewinnen. Die Entwicklungen sind innerhalb der Gattungen am besten zu beobachten — greifen wir also zum Beispiel Streichquartett.
„ST/4“ ist die Abkürzung für ST/4, 1-080262, was soviel heißt wie „Stochastische Komposition für vier Instrumente, erste ihrer Art, errechnet am 8.Februar 1962“. Xenakis hatte, nach sechsjähriger Vorarbeit, ein Computerprogramm Zufallszahlen errechnen lassen, die geeignet waren, in eine spielbare Notation umgesetzt zu werden. Das von jeglicher Tradition dekontaminierte Klanggeschehen strahlt den spröden Reiz der Nichtvorhersagbarkeit aus: Glissandi, gefärbt von einer Vielzahl von Spieltechniken, sind über kurze, schroffe Tremoli und an- oder abschwellenden Tönen in stets überraschenden Kombinationen geschichtet.
„Tetras“ (1983) ist zweifellos eines der eindrucksvollsten Streichquartette dieses Jahrhunderts. Mitreißende Aufschwünge, knirschende Kontraste, Übergänge von unisono zu divisi erzeugen einen Sog, dem kaum zu entgehen ist. Dennoch ist die Faktur des Stücks einfacher gestaltet als beim Vorgänger: die vier Instrumente spielen überwiegend isomorph, das simultane Geschehen hat sich stark gelichtet; die Großform ist in klar abgegrenzte Teile zerlegt.
„Tetora“ (1990) ist nachgerade einfach gestrickt. Die Geräusche verschwinden (nicht einmal ein Pizzikato taucht noch auf), das Metrum wird wahrnehmbar, ja sogar Melodien (statt der früheren Glissandi) und tonale Wirkungen stellen sich ein. Vorherrschend sind Tonsatzmodelle der Tradition wie die Antiphonie. Allerdings läßt sich diese Tendenz zur Simplifizierung nicht bei allen Gattungen chronologisch feststellen. Entsprechende Betrachtungen für die Klavierstücke anzustellen überlassen wir den eifrigen Rezipienten.
Wie schwer sich Exegeten mitunter tun, die Phänomene sprachlich in den Griff zu bekommen, zeigen die hilflosen Kommentarzeilen Harry Halbreichs. Zwischen allgemeiner Schwärmerei und unsinnigen Vergleichen („ein Beethoven unserer Zeit“) versucht der Booklet- Text mal die mathematischen Begriffe anzureißen (dann sind grobe Verwechslungen wie die von statistischen Gesetzen mit „logischen Ordnungen“ die Folge), mal die mythologischen Titel farbig auszuspinnen. So folgt er den ausgelegten Pfaden des Komponisten, statt sich um eine eigene Interpretation zu bemühen.
Die Interpretationen des Arditti String Quartet sind momentan konkurrenzlos und werden es wohl noch eine Weile bleiben. Ein Quartett, das über ähnlich traumwandlerische Virtuosität verfügt und eine solche Palette an Gestaltungsmitteln anführen kann, ist einfach nicht in Sicht. Die Spielfreude, mit der sich die Interpreten noch dem ruppigsten Geräusch hingeben, überträgt sich als schaurig-schönes Wohlgefallen auf den Hörer — bis zur Gänsehaut.
Ähnliches gilt für Claude Helffer. Ein Pianist, der über die acht Arme einer Inkarnation Vishnus verfügte, hätte bei den Klavierstücken bestenfalls rhythmische Probleme oder solche der Koordination, so aber kompensieren die normal sterblichen Tastenakrobaten durch hurtige Bewegungen den Mangel an Gliedern, was in der Regel zuungunsten der Anschlagsqualität geht. Aus bisher ungeklärten Gründen gelingt es Claude Helffer jedoch, selbst im größten Getümmel noch einen „klassischen“ Ton zu erzielen.
Daß jedoch alle Zahlenmagie vor Banalität nicht schützt, hat Xenakis mit „Okho“ (1989) für drei afrikanische Tontrommeln (Djembés) gezeigt. Gespielt vom Trio Le Cercle, ist das Stück auf einer weiteren, im selben Verlag erschienenen CD enthalten. Eröffnet wird es mit einem kräftig federnden Unisono, wie es jedem Spielmannszug der freiwilligen Feuerwehr eines mittelgroßen Marktfleckens so recht nach dem Herzen wäre. Zwar weicht der monothematische Rhythmus bereits nach wenigen Minuten auf, die Stimmen treten auseinander, so daß es nunmehr den akademischen Bewußtwerdungstrommlern in den Fingerspitzen zucken dürfte. Aber schon wenig später sind alle wieder beieinander, und gemeinsam trommeln sie, bis das Bier alle ist.
Wie ist solche Einfalt angesichts der von Exegeten so oft angeführten „äußerst komplexen Schichtung irrationaler Größen“ möglich? Die Freunde des verzwickten Zahlenspiels sind immer wieder geneigt, einen Umstand zu übersehen: jedes Set von Zahlen muß ja irgendwie auf ein Instrument übertragen werden. Und wenn ein Komponist entscheiden würde, die Ergebnisse eines elliptischen Integrals dritter Gattung (welches auszurechnen verdammt ungemütlich wäre) auf eine Mundharmonika in G-Dur zu projizieren, klänge das eben nach einer Bluesband im Übekeller und nicht nach höherer Mathematik.
Iannis Xenakis: „musique de chambre“. Disques Montaigne 782005 (2 CD).
Arditti String Quartet & Trio Le Cercle: Werke von Aperghis, MÛche, Xenakis, Gaussin. Disques Montaigne 78 20 02
KAMMERMUSIKVONIANNISXENAKIS
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen