: Alle zwei Tage eine Handvoll Erdnüsse
Haiti zehn Monate nach dem Militärputsch — eine Reise durch die Hoffnungslosigkeit/ Die aktiven Aristide-Anhänger sind untergetaucht, der Rest der Bevölkerung versucht unter immer schwierigeren Umständen zu überleben ■ Von Jan Eggersglusz
Port-au-Prince (taz) — Haitis Hauptstadt ist stockdunkel. Nur das Hotel und der Präsidentenpalast verfügen über eigene Generatoren und sind hell erleuchtet; sonst herrscht in der Millionenstadt Finsternis. In den menschenleeren Straßen sind die Müllberge noch höher, noch stinkender als sonst.
Auch in der Rue des Miracles brennt kein Licht. Vorsichtig muß man sich von Hütte zu Hütte tasten, um nicht in die offene Kanalisation zu fallen. Schließlich finde ich meinen Bekannten Hippolyte und seine Mutter Clarissa. Sie erzählen mir, die unmittelbar nach dem Militärputsch häufigen Tränengasüberfälle und Verhaftungen durch Armee und Polizei hätten nachgelassen. Die AnhängerInnen des gestürzten Präsidenten Aristide haben sich entweder bei Freunden auf dem Lande versteckt oder eine Fluchtmöglichkeit nach Miami gesucht — oder sie sind einfach „verschwunden“.
Aber erst neulich habe es wieder eine Razzia gegeben. Junge Männer, die keine kurzgeschnittenen Haare trugen, sondern eine modische Frisur, seien von der Polizei festgenommen worden. Am nächsten Tag kamen sie wieder frei, geschoren und mit blutig geschlagenen Köpfen. „Und ganz schlimm treiben sie es mit den Straßenkindern, die früher den besonderen Schutz Aristides genossen“, fügt Clarissa hinzu. „Wenn sie beim Betteln erwischt werden — und wovon sollen sie sonst leben? —, geht es ab in die Kasernen, und dort werden sie windelweich geprügelt.“
Wasser nur noch am Tankwagen
Größtes Alltagsproblem: das Wasser. Im Hof der Hütte gibt es einen Wasserhahn, der früher einmal pro Woche ein schwaches Rinnsal abgab. „Für 60 Menschen mußte das reichen“, sagt Clarissa, „wenn du Kinder und Alte einrechnest.“ Eine Antwort, die die Härte des Überlebenskampfes zwischen den Armen klarmacht. „Aber seit drei Wochen kommt überhaupt kein Wasser mehr. Wir müssen es am Tankwagen kaufen, und die Preise haben sich verdreifacht.“ Und noch eine Sorge: „Dieser Gestank in der Luft! Vor allem hier in der Stadt. Glaubst du nicht auch, daß die Kinder davon krank werden können?“
Seit dem OAS-Embargo haben Venezuela und Mexiko aufgehört, sauberen Treibstoff nach Haiti zu liefern. Gewiefte Kaufleute haben neue Quellen aufgetan, in Afrika und China, wo sie mangelhaft raffinierte Treibstoffe erstehen können. Offensichtlich sind darin Chemikalien enthalten, die da nicht hineingehören. Die Gesundheit bleibt auf der Strecke — Hauptsache, das Geld stimmt: Eine Tankerladung kann um die zwei Millionen Dollar auf Konten in Miami oder Zürich bringen.
In meinem Hotel bin ich der einzige Gast. Der Besitzer ist ein steinreicher Mulatte, einer der 30.000 Oberschichtangehörigen, die 6,5 Millionen HaitianerInnen seit 200 Jahren auspressen. Seine Angestellten bekommen umgerechnet 80 Mark im Monat, halb soviel wie früher. Franz, der Kellner, sagt, daß sie in Schichten arbeiten: zwei Wochen die eine Hälfte des Personals, dann zwei Wochen die anderen. Wie bezahlt er die verdoppelten Fahrpreise? Gar nicht. Er geht eben zu Fuß. Täglich zweimal eineinhalb Stunden.
Am nächsten Morgen besucht mich Vilaire, ein Oberschüler der Ecole Normale Supérieure. Er berichtet, daß Anfang Juni, während der Einsetzung des neuen Ministerpräsidenten Marc Bazin durch das Militär, in der Schule eine Protestversammlung abgehalten wurde. Die SchülerInnen demonstrierten für Aristide. Darauf belagerten Soldaten das Gebäude — den ganzen Tag lang, bis zum nächsten Morgen mußten die SchülerInnen ohne Essen und Trinken ausharren. Am Ende hat man sie ziehen lassen. Sie hatten Glück: Bei einem ähnlichen Anlaß in einer anderen Schule wurden drei Schüler erschossen.
Auf der Fahrt aus Port-au-Prince hinaus in den Nordwesten passiere ich Gonaives, eine bereits zu Zeiten der Duvalier-Diktatur demokratisch gesinnte Kleinstadt. Auf dem Balkon der Kaserne lümmeln Soldaten um ein schweres Maschinengewehr herum, die Mündung auf den Eingang gerichtet. Kein Wunder, daß es kaum zu Demonstrationen kommt.
Abends, nach Einbruch der Dunkelheit, erreiche ich die mit 70.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Haitis, Cap-Haitien. Auch hier ist alles dunkel, obwohl kanadische Hilfsorganisationen sechs große Generatoren installiert und deutsche Helfer ein Wasserkraftwerk gebaut haben. Früher wurde wenigstens der eine oder andere Stadtteil abends mit Strom versorgt.
Exportschlager: Holzkohle und Leichen
Ich treffe meinen Freund Ti Roro und bin erschüttert. Der 26jährige ist ausgemergelt, seine Adern zeichnen sich deutlich auf den dünnen Ärmchen ab. Was hast du heute gegessen? Nichts. Und gestern? Ein paar Erdnüsse. Ich erfahre auch, warum er so darbt: Sein Nachbar, auch ein Bauer, war in der Genossenschaftsbewegung aktiv und ist jetzt in den Untergrund gegangen. Ti Roros Familie füttert nun die hiergebliebenen Familienmitglieder mit durch.
Beim Anblick dieses abgemagerten Jungen fallen mir die widerwärtigen Geschäfte haitianischer Ärzte ein: Verstorbene können von ihren Angehörigen nur gegen eine Gebühr von 30 Dollar aus dem Leichenschauhaus abgeholt werden — für die meisten eine unerschwingliche Summe. Gerade daraus entsteht das Geschäft: In den USA sind haitianische Leichen gefragte Ware. Wegen des geringeren Fettgewebes sind sie begehrte Präparationsobjekte für die Anatomie.
Ich fahre weiter in den Nordwesten, in das entlegene Ti Rivière. Die Bäume, die früher vor der Schule standen, sind weg. „Im Winter und im Frühjahr hat es lange nicht geregnet“, sagt mir ein Bewohner. „Da die Bauern keine Vorräte mehr hatten, haben sie erst die unreifen Mangos und dann das Saatgut gegessen. Dann haben sie die Bäume zu Holzkohle verarbeitet und verkauft.“
Der Teufelskreis geht noch weiter. Da es vielen Bauern so geht, haben sie so viele Bäume geschlagen, daß der Preis für Holzkohle abgestürzt ist. So müssen sie noch mehr Bäume schlagen, um an das nötige Geld zu kommen. Geschäftsleute nutzen die Lage, um eine alte Branche zu neuer Blüte zu bringen: den Holzkohlenexport. Die „Regierung“ unternimmt nichts dagegen. Ihr ist das Schicksal des Landes egal.
Es ist ein Leben ohne Hoffnung. Ein Bauer nimmt mich zur Seite: „Es hat jetzt ein bißchen geregnet, so daß ich pflanzen könnte. Die UNO hat einem Ingenieur im Landwirtschaftsministerium Saatgut gegeben. Er sollte es an uns verteilen, aber nur ein paar Freunde von ihm haben etwas davon bekommen. Den Rest hat er verkauft.“ Ein zweiter Bauer erzählt: „900 Sack Zement hat dieser Ingenieur auch bekommen, damit er als Notstandsarbeit Straßen baut. Nach vier Metern Straße waren die 900 Säcke angeblich verbraucht, und wir sind wieder ohne Arbeit.“
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