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Auswege aus dem Theoriesumpf

Zwei neue Bücher über das Scheitern der Entwicklungspolitik und die Zukunftsaufgaben Europas  ■ Von Dominic Johnson

Die Auflösung des Begriffs „Dritte Welt“, das Verschwinden entwicklungspolitischer Urteilskraft und das Heraufkommen neuartiger Konflikte außerhalb Europas, die mit den tradierten Politikbegriffen weder zu messen noch zu lösen sind, führt in der wissenschaftlichen Diskussion nicht zu den als Reflex zu erwartenden größeren Theorieschüben. Vielmehr findet diejenige Theoriemüdigkeit und Wissensskepsis, die in den Diskussionen um das Ende der Moderne seit zwanzig Jahren vorweggenommen wird, nun ihre praktische Umsetzung in der Form allgemeiner Ratlosigkeit.

Zwei Neuerscheinungen auf dem Markt der Dritte-Welt-Literatur vermelden diese Ratlosigkeit und versuchen dennoch, aus ihr handhabbare Konsequenzen zu ziehen. „Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie“ untersucht der Entwicklungssoziologe Ulrich Menzel; der durch die Rettungsaktionen des Notärzte-Komitees „Cap Anamur“ bekannte Rupert Neudeck schreibt über „Das Versagen des Humanismus“, Untertitel: „Unkonventionelle Hilfsmaßnahmen für die Dritte Welt“. Das eine ist theoriegeschichtliche, das andere persönliche Aufarbeitung der entwicklungspolitischen Krise. Dadurch ergibt sich ein von den Autoren nicht gewolltes, aber doch produktives Spannungsverhältnis, das zur notwendigen Neuorientierung beitragen könnte.

Der Großteil des Menzel-Sammelbandes besteht aus Aufsätzen, die die entwicklungstheoretischen Paradigmen der letzten Jahrzehnte, teils auch der letzten Jahrhunderte, rekapitulieren und aus deren Unzulänglichkeit das augenfällige „Scheitern der Modelle“ herleiten. Die Dritte Welt, so sein Schluß, hat sich jenseits theoretischer Begreifbarkeit heterogenisiert: Die Schwellenländer Ost- und Südostasiens, die Ölstaaten der Golfregion und der „relativ oder gar absolut weiter verarmende Rest“ sind nicht unter einen Hut zu bringen. Ihnen gegenüber steht die „Trilaterale“ aus USA, Japan und Deutschland, deren Interessen keinesfalls automatisch miteinander übereinstimmen müssen.

Die hieraus zu erwartende Zunahme der Konfliktpotentiale führt zwangsläufig dazu, daß der große „Rest“ der Menschheit nicht mehr als Entwicklungspotential, sondern als globaler Sozialfall behandelt wird. Es geht daher darum, den abzusehenden Trend zu globaler Sozialpolitik aus seinem derzeitigen Zusammenhang der Panikreaktion auf Katastrophen zu lösen und ihm eine haltbare theoretische Unterfutterung zu geben: „Es muß eine Liste nach noch zu diskutierenden Kriterien besonders bedrohter Krisenregionen erstellt werden. Diese Gebiete, die nicht unbedingt mit den territorialen Grenzen identisch sind, werden bis auf weiteres der Treuhandschaft der Länder des Nordens unterstellt, wobei multilaterale Modelle geeigneter sind, da sie neokolonialen Gelüsten eher vorbeugen.“

„Der Bangladeshi hörte schweigend zu...“

Die bislang vorliegenden Einwände gegen dieses Konzept, auf die Menzel ebenfalls kurz eingeht, müssen hier nicht weiter diskutiert werden — sie sind zum großen Teil eine Hinterlassenschaft des entwicklungspolitischen Theoriestreits. Wichtiger ist die Frage: Wie würde dies denn praktisch funktionieren? Denn ein leider zu erwartendes Szenario hat die ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Brigitte Erler bereits 1985 beschrieben: „Während eines Abendessens saß ich neben einem hohen UN-Beamten, uns gegenüber ein prominenter Bangladeshi. UN- Beamter: Die Bangladeshi brauchen uns eben. Wenn Sie ihn fragen würden, würde er Ihnen das gleiche sagen. Ich: Dann fragen Sie ihn doch, er sitzt Ihnen doch gegenüber. UN- Beamter: Ich weiß das, er würde das sagen. Der Bangladeshi hörte schweigend diesem Gespräch zu.“

Leider erwähnt Menzel Erlers Kritik der Entwicklungshilfe nur in einem Nebensatz. Es ist Rupert Neudeck, der diese Sätze aus Erlers sieben Jahre altem Buch „Tödliche Hilfe“ zitiert, um das „Versagen des Humanismus“ zu belegen. Seine Abrechnung mit der Mischung aus Machtgeilheit, Unwissen und Heuchelei, die sonst unter dem Begriff „Politik“ firmiert, ist die unverzichtbare praktische Ergänzung für jeden, der sich mit Menzels Kompendium unterm Arm in den Sumpf entwicklungspolitischer Diskussionen begeben will. Denn Entwicklungspolitik wird, wenn sie gemacht wird, von Menschen gemacht. Es ist einer ihrer Wesenszüge — sonst wäre sie überflüssig —, daß sich in ihr Menschen gegenüberstehen, zwischen denen ein unüberbrückbares Machtgefälle und eine extreme Interessenkluft besteht. Und es ist einer der Vorzüge von Büchern wie Neudecks, daß sie dieses Gefälle, und insbesondere den Platz der Entwicklungstheorie in der Herstellung dieses Gefälles, aus der Sicht des Praktikers beobachten.

Neudecks Fazit ist ernüchternd: Das reiche Westeuropa hat seine „drei großen Zukunftsaufgaben“ noch nicht einmal ansatzweise gelöst. Gemeint ist die Herstellung vernünftiger Beziehungen zu den drei Nachbarregionen — Osteuropa, die islamische Welt und Afrika. Die Frage drängt sich auf: Osteuropa und Islam ja — aber warum Afrika? „Afrika ist nur diesem Europa zugeordnet, ja, uns aufgegeben, sonst niemandem. Von woher sollte es eine Perspektive bekommen, falls sie überhaupt von außen kommen muß, wenn nicht von Europa?“

Verzweifeln an der deutschen Afrika-Politik

Mit Beispiel auf Beispiel, eines skandalöser als das andere, zeigt Neudeck die Misere und den Dilettantismus der deutschen Afrika-Politik auf: Militärhilfe für die Diktatoren in Sudan und Zaire, Unterstützung des Mengistu-Regimes in Äthiopien und der Barre-Diktatur in Somalia bis zuletzt, und dadurch bedingte Unfähigkeit, die neuen Verhältnisse am Horn von Afrika — von der Zerstörung Somalias bis zu Erfolgsstory Eritrea — auch nur im geringsten zu begreifen.

Doch Neudeck will mehr als Skandale offenlegen. Sein Buch handelt vom Versagen: das Versagen auch der Erinnerung, der Prognose, der linken Illusionen, der Vorbilder. Er trauert nicht nur den verpaßten Chancen Afrikas nach, sondern auch der gescheiterten linken Identität. Wo ist die „subversive memoria“, die selbstkritische und gleichzeitig vorausschauende Erinnerung, die Europas Aufklärung ausmachte? „Mein Land ist nicht mehr mein Land.“ Die Illusionen sind aufgebraucht. „Vielleicht gehe ich doch nach dieser Erfahrung heraus aus Deutschland und baue meinen Garten und Felder in Nacfa in Eritrea.“

Der Traum ist kurz. Beide, Neudeck und Menzel, landen schließlich wieder in Europa — der Weltregion, wo laut Menzel „die Entwicklungsproblematik gelöst und gleichzeitig eine Zivilgesellschaft aufgebaut wurde, die als einzige die Menschenrechte auf Dauer zu garantieren vermochte“. Zusammen mit Neudecks drei Aufgaben lassen sich hier die Konturen eines Zukunftsprogramms für die Welt erahnen, die in ihrem Gigantismus schon wieder Zweifel aufkommen lassen. Denn das dazu nötige Wunsch-Europa gibt es nicht. Es müßte sich seiner eigenen Macht, seines Fortschritts und seiner Moralfähigkeit hinreichend bewußt sein, um sich selbst zu verleugnen. Die vordringlichste entwicklungspolitische Aufgabe liegt nicht in Afrika, sondern in Europa selbst.

Ulrich Menzel: „Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie“. Edition Suhrkamp 1718, 225 Seiten

Rupert Neudeck: „Das Versagen des Humanismus. Unkonventionelle Hilfsmaßnahmen für die Dritte Welt“. Beltz Quadriga, Basel, 248 Seiten

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