: SOMNAMBOULEVARD — TRAUMTHEATER Von Micky Remann
Wer schafft es heutzutage noch, im Wachzustand mal ins Theater zu gehen? Ich jedenfalls nicht, weshalb ich mich auf den Besuch unserer somnambulen Traumproduktionen beschränke und nicht schlecht dabei fahre, weil die auch nicht von Wellpappe sind. Daß dem so ist, ja sein muß, davon zeugt bereits der Begriff „Vorstellung“, der auf eine öffensichtliche, wenn auch offensichtlich übersehene Querverbindung zwischen Gehirn und Theater hinweist. Bühnenvorstellung und geistige Vorstellung verschmelzen bei uns zum gefeierten Mental-Musical mit echten dancing girls in Traumkostümen. Mein Gedanke ist dein Theater und umgekehrt. Jede Nacht finden virtuelle Opern im Kopf statt, aber jeder Kopf ist nach außen offen, und das macht ihn zur Broadway-Bühne, auch wenn er es selbst nicht weiß bzw. es verschläft. Die Show geht trotzdem weiter bei vollbesetztem Hirnhaus, denn das theatrale Hirn ist das Herz des 21.Jahrhunderts: Bühne, Produzent und Publikum in einem. Innenshow und Außendarbietung inszenieren, simulieren und stimulieren sich gegenseitig, und wir, die staunenden Schauspieler unserer eigenen Tragikomödien, navigieren durch den Strom von Applaus und Buhrufen auf der Suche nach der nicht vorhandenen Souffleuse, die uns den Text aber auch erst vorsagen kann, nachdem wir ihn selbst improvisiert haben. In dieser vernetzten Neuro- Dramaturgie im Trüben zu träumen, heißt, die Drehbühne aus Bildern, Tönen und Identitätsmonologen zu erleiden wie ein hochsubventioniertes Gähnstück, bei dem du vergessen hast, daß du jederzeit rausgehen darfst, vielleicht auf den Somnamboulevard Eis mit Sahne schlecken, oder daß du genauso gut auf dem Logenplatz „Bravo!“ und „Zugabe!“ rufen kannst, weil du merkst, daß du bei diesem Stück selbst Regie geführt hast.
Was aber geschieht, wenn die Akteure deines Traumtheaters so überzeugend spielen, daß du sie für Wesen mit eigenem Willen und eigener Subjektivität hältst? Was wäre, wenn die Romeos und Julias aus deiner somnambulen Eigenherstellung beim Erwachen eben nicht verschwinden, sondern dir als autonome Wachwesen wiederbegegnen? Wenn sie ein Eigenleben führen, von dem du so wenig weißt wie von Göttern, Teufeln, Dämonen und sonstigen unidentifizierten Viren auf der Festplatte?
Das mentale Cybertraumtheater auf dem Somnamboulevard bietet also nicht nur die Möglichkeit, jedes gewünschte Erlebnis in Szene zu setzen, jede Persona zum Leben zu erwecken wie einen Golem, sondern es birgt auch den Fluch, sie alle für so real zu halten wie ein Kind das Krokodil im Kasperltheater.
Für solche Nervenkostümfeste stehen drei klassische Labors zur Verfügung: Theater, Computer und Gehirn. Letzters hat, trotz seiner erwiesenen Launigkeit, den Vorteil, daß wir alle eins besitzen und daß auf seiner Bühne rund um die Uhr was los ist. Sogar jetzt. Und besonders nachts, wenn es außen dunkelt und dein Innenselbst „Vorhang fällt, Spot an!“ ruft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen