: Neue Zweifel an Vorgängen in Sirnak
■ Türkische Presse: Angriff auf kurdische Stadt von Armee inszeniert/ Unstimmigkeiten in offiziellen Berichten/ Unterschiedliche Angaben über Todesopfer/ Unabhängige Beobachter gefordert
Ankara (AFP) — In der Türkei wachsen die Zweifel an der bisherigen offiziellen Darstellung der blutigen Ereignisse in der kurdischen Stadt Sirnak, die nach Angaben des Militärs vom Dienstag angeblich von mehreren hundert Guerillakämpfern der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) angegriffen wurde. Die Tageszeitung Zaman, Hauptorgan der türkischen Islamisten, berichtete in ihrer Samstagsausgabe, der Angriff sei offenbar keine Operation der kurdischen Rebellen gewesen, sondern „das Werk von türkischen Anti-Guerilla-Einheiten“, denen auch Mitglieder der Ordnungskräfte angehört hätten. Diese Einheiten wollten mit dem getarnten Angriff den Einsatz radikalerer Mittel gegen Oppositionsgruppen rechtfertigen.
Auch andere türkische Zeitungen stellten am Samstag die Frage, wie mehrere hundert Rebellen unbemerkt die Kontrollen an zwei Zufahrtsstraßen der Stadt passieren konnten. Dabei wurde auch darauf hingewiesen, daß bislang kein einziger der 362 Festgenommenen eindeutig als PKK-Kämpfer identifiziert worden sei. Nach den ersten — offiziellen — Angaben hatten rund 1.000 bis 1.500 kurdische Rebellen Sirnak angegriffen und sich zwei Tage lange Gefechte mit den türkischen Sicherheitskräften geliefert. Der türkische Innenminister Ismet Sezgin hatte am Freitag von 600 bis 700 „Terroristen“ gesprochen, die die Stadt nicht mehr hätten verlassen können.
Ungeklärt sei auch, wie die große Zahl von Waffen, die die Kämpfer angeblich benutzten, in die Stadt herein- und auch wieder herausgebracht wurden, hieß es in vielen Zeitungen weiter. Seit Donnerstag fanden die Sicherheitskräfte in der Stadt lediglich 31 Kalaschnikow-Maschinengewehre und etwa 20 Gewehre. Bis zum Samstag wurde keine Spur der Mörser und Raketenwerfer gefunden, die die Rebellen bei ihrem Angriff benutzt haben sollen.
Nach Aussage von Zeugen wurden drei Viertel der öffentlichen und militärischen Gebäude mit Artilleriegeschützen zerstört. Die türkische Presse fragte sich schließlich auch, wie die Rebellen „mit den Leichen ihrer gefallenen Genossen“ aus der Stadt entkommen konnten, die seit Dienstag abend von Sicherheitskräften umzingelt war.
Unklarheit bestand am Samstag auch über die Zahl der Toten und Verletzten. Nach offiziellen Angaben wurden bei den zweitägigen Gefechten acht Menschen getötet: vier Zivilisten, darunter eine Frau und ein Kind, sowie vier Polizisten. Von getöteten Aufständischen wurde nichts bekannt. Etwa ein Dutzend Personen seien verletzt worden. Der kurdische Menschenrechtsverein in Diyarbakir sprach dagegen am Samstag von Hunderten von Toten und Verletzten in Sirnak. Im Garten des städtischen Krankenhauses seien die Leichen von 30 getöteten Zivilpersonen gefunden worden. Der Verein forderte die Weltöffentlichkeit dringend auf, unabhängige Beobachter in die Region zu entsenden.
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