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Näher am Leben dran

Der Dramatiker Jochen Berg, dessen Stücke nun wieder gespielt werden  ■ Von Sabine Seifert

Auf mein kleines Diktaphon reagiert er abwehrend. „Soll ich Ihnen etwas von meinen ,Zetteln' vorlesen?“ fragt Jochen Berg und geht in die Offensive. Aus der Tasche zieht er kleine Zettel, die mit handschriftlich notierten Sentenzen gespickt sind. Etwa: „Müßiggang ist ein protestantischer Übersetzungsfehler Luthers: Calvinismus.“ Etwas philosophischer: „Alles auf der Welt tritt so in Erscheinung, wie es auf sein Wesen wirkt. Alles ist und ist zu verstehen, wie es als Wesen wirkt.“ Es geht auch alberner: „Drei Fehler an einem Tag reichen aus, um einen Mann umzubringen. Sollte er das überleben, dann handelt es sich um Schicksal.“

Berg lacht. Ist seine Zettelwirtschaft beim Schreiben hilfreich, verwertet er die Sprüche? „Wenn ich sie zur rechten Zeit finde.“ Jochen Berg, Jahrgang 1948, wirkt zurückhaltend, aber freundlich. „Frustriert?“ — „Nein.“ Seine Stücke wurden in der DDR nicht gespielt, obwohl er ab 1974 mit dem Deutschen Theater in Ost-Berlin einen Autorenvertrag hatte — bis zur Wende. „An dem Punkt, wo wir hätten anfangen können zu arbeiten, kam die Kündigung“, erzählt Berg. Das war noch unter dem alten Intendanten Dieter Mann, der neue, Thomas Langhoff, aber hat jetzt — als Theater im Garten — eine Inszenierung des 1978 noch vor der Uraufführung abgesetzten Stücks „Iphigeneia“ von Jochen Berg ermöglicht.

„Iphigeneia“ entstand bereits 1977 als Teil einer Tetralogie und Bearbeitung der klassischen Atriden-Sage, Alexander Lang sollte Regie führen. Der damalige Intendant Wolfram bekam jedoch eine „Empfehlung“ von oben, das Stück nicht zu machen — er hielt sich dran. „Sie wußten nicht, wo das Stück spielt“, erinnert sich Jochen Berg, „da gab es sogar eine ZK-Analyse, wonach die Ur-Iphigenie auf der Krim spielt.“ Das war natürlich ganz schlimm — und völlig absurd. „Sie dachten, sie kriegten mit dem Stoff die deutsche Frage auf den Tisch. Daran war natürlich kein Mensch interessiert.“

Aber auch die jetzige Inszenierung von Frank Lienert (uraufgeführt wurde „Iphigeneia“ 1982 durch Hansgünter Heyme in Stuttgart), im Garten hinter der sogenannten Baracke des Deutschen Theaters, entkräftet diesen Verdacht nicht. Iphigenie (Petra Hartung), von Thoas gedrängt, ein längst absurd gewordenes und vom Volk ad absurdum geführtes Gesetz zu vollziehen, nämlich als Priesterin zwei Fremde dem Opfertod zu weihen, verweigert sich dieser Aufgabe (zumal es sich bekanntlich um ihren Bruder Orest und dessen Freund handelt). Thoas (Manfred Möck) will sie, die fremde Griechin im Taurerland, gegen ihren Willen zur Weihung zwingen — bis Barbas (Lutz Schneider) stellvertretend für das Volk zu Thoas redet: „...dem gast/ soll gastlich man begegnen, was sich öffnet, blüht./ was sich schließt, verkümmert. stimmst du mit uns/ nicht überein, suche dir ein andres volk.“ Such dir ein andres Volk... ein Schreckensbild für die Regierenden. Thoas gibt die Gefangenen frei und das unwürdige Gesetz auf. Die Mauer (im Kopf) fällt, plötzlich. Die Scheinwerfer richten sich auf eine weiße Wand im hinteren Teil des Gartens, vor der sich schweigend die Spieler postieren. Die Zukunft: Projektionsfläche, leeres Blatt — oder Trugbild?

Jochen Berg hat dezidierte Ansichten zum Thema Geschichte, nicht nur das hat er mit Heiner Müller gemeinsam — „aber meine Stücke waren propagandistisch nicht ausschlachtbar“. Berg: „Trugbilder sind der Motor der Geschichte. Durch die müssen wir durch.“ („Aufschreiben, aufschreiben“, weist der Dichter ironisch die Journalistin zurecht.) „Geschichte ist irrational. Jedesmal, wenn Geschichte passiert, sind wir völlig erschüttert darüber, daß sie passiert. Geschichte passiert weder evolutionär noch linear. Sie ist kein Kontinuum.“ In der DDR war die Geschichte eingefroren, nun, wo wieder Geschichte passiert, schreibt Jochen Berg mit neuem Elan. „Einzig Geschichte ist für das Drama interessant.“

„Fremde in der Nacht“ heißt sein letztes Stück, 1990/91 entstanden, ein weiteres ist in Arbeit; Frank Castorf wird „Fremde in der Nacht“ im November an der Volksbühne uraufführen. Es spielt in der Silvesternacht 1990 am Brandenburger Tor und „beschreibt die letzten Zuckungen der DDR, die Strukturen eines untergehenden Staats“. Da gibt es die ganzen Prototypen der DDR-Berufsliga: den Grenzsoldaten, den Sportler als Exportartikel, den Spionageabwehr-Chef und all ihre Selbstlügen: „Unsre Erfolge waren unser Untergang./ Und schön still wars in unsrem Land./ Der eine horchte und der andere schwieg.“ Berg hat einen kleinen Epilog angehängt, der so auch für „Iphigeneia“ gelten kann: „Dieses Ende läßt auf manches hoffen/ nur das Messer das bleibt immer offen.“

Zurück zur „Iphigenie“-Inszenierung, die ich mir lieber als Komödie denn tragödienhaft gespielt gewünscht hätte. Das Stück thematisiert das Fremdsein (in einem fremden Land), das Fremdwerden (des eigenen Landes), das Fremdbleiben hier wie dort. Die Fremde zwingt zum Untätigsein. Überträgt man den Stoff, so sind die Griechen die Westdeutschen (mit ihrer martialischen Siegerkultur) und die Taurer ihre ostdeutschen Landsleute (mit ihrer provinziellen Hirtenkultur). Der Regisseur Frank Lienert vermied aktuelle Anspielungen oder Gags, er überließ sich dem Naturalismus der Gartenszenerie, setzte Kunstlicht gegen Abendlicht und die (bei Mnouchkine abgelauschten) fernöstlichen Klänge gegen die abgedämpften Geräusche von draußen. Nur der Apfel in der Hand Iphigenies irritierte; kein solcher Baum in diesem Garten stand.

Das Gesetz, Fremde zu töten, ist aufgehoben, der Fremdenhaß regiert weiter — selbst unter Brudervölkern. „Alles ist nach wie vor ein ökonomisches Problem“, sagt Berg, „es geht auf einen Bürgerkrieg zu.“ Die soziale Explosion habe er erwartet. Berg pflegt keineswegs die gängige Faschismus-Debatte. „Die Faschismus-Diskussion ist intellektuelle Faulheit, weil man auf alte Muster zurückgreift und nicht begreifen will, was wirklich passiert. Die Welt verändert sich.“ Wie schwer es ist, diese Veränderungen zu begreifen, erlebt er an Jugendlichen seiner Umgebung — Berg lebt in Berlin-Mitte, in einer Straße, die schon zu Lebzeiten den Namen des Dichters trägt — oder am Sohn seiner Freundin. „Die hängen mit acht bis zehn Leuten vorm Fernseher herum, trinken Bier, wollen keine eigene Wohnung haben, machen Gelegenheitsjobs, sind nicht auf Ehrgeiz oder Karriere getrimmt. Die fahren jetzt alle nach Rostock, um den Rechten eins auszuwischen, so eine Art Jugendtourismus. Sie wissen gar nicht, daß sie noch ein ganzes Leben vor sich haben.“ Berg hört sich um, das ist zu spüren. Wovon sein neues Stück handelt, will er nicht verraten, „was Heutiges“. (Auch als Regisseur will er bald wieder arbeiten, das hatte man ihm jedes Mal vermiest.) Und zitiert zum Schluß diesen wunderschönen Satz von Cage: „Theater ist immer näher am Leben dran als Kunst und Musik.“ Das Drama geht weiter — wie das Leben.

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