: Milovan Djilas: Der Nationalismus spielt auf zum blutigen Reigen
Die Ursachen für die blutigen Konflikte und die besessene Kriegführung auf dem Territorium des einstigen Jugoslawien muß man in Ideologien suchen, die verbohrt auf die Errichtung ethnischer — mehr noch: ethnisch reiner! — Staaten abzielten und noch immer abzielen.
Dies allein zeigt bereits, welcher Art diese Ideologien sind und welche Art Kriege im ehemaligen Jugoslawien geführt werden. Diese — wie auf den ersten Blick zu erkennen — nationalistischen Ideen sind ein Erbe des 19.Jahrhunderts. In mancherlei Varianten haben sie bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Mittel- und Osteuropa und natürlich auf dem Balkan geherrscht und überwogen. Unter dem Druck des modernen Liberalismus, der internationalen Gesetze und Menschenrechte sind diese Ideologien — in ihrem Wesen ein Wirrwarr aus chauvinistischer Ausschließlichkeit und größenwahnsinnigem Rassismus — gezwungen, sich demokratisch zu maskieren.
Aber nur den Gutherzigen, den edlen Träumer können die Schrecken überraschen, die unvermeidlich aus einem Krieg der Ideologien in ehtnisch und religiös gemischten Milieus resultieren, wie es Serbien und Kroatien und in noch höherem Maße Bosnien-Herzegowina sind. Gäbe es keine objektiven Informationen und so etwas wie Kontrolle durch internationale Institutionen, wären die Massaker an Unschuldigen, die Vertreibung „fremder Völker“ und die sinnlosen Verwüstungen aus dem Zweiten Weltkrieg im Grunde die Ouvertüre zur heutigen Orgie des Wahnsinns gewesen.
Sie ist auch eine Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs, und zwar wie damals in erster Linie ein Krieg zwischen dem serbischen und dem kroatischen Eroberernationalismus — und wiederum besonders auf dem Territorium von Bosnien-Herzegowina. Mit flüchtig an das liberale Europa angepaßten Ideologien, aber Aggressions- und Eroberungsabsichten spielen der serbische und der kroatische Nationalismus wieder zum blutigen Reigen auf, und um so wütender, da die Kommunisten mit ihrem antifaschistischen Jugoslawentum als gemeinsamem Feind nicht mehr da sind. Ein für das totalitäre nationalistische Bewußtsein unerwarteter „Feind“ ist aufgetaucht: Westeuropa, die USA, selbst das neue Rußland.
Aber Westeuropa reagiert uneinig und dadurch zögernd und konfus auf den Krieg in Jugoslawien. Auch die USA haben die tragischen Veränderungen und Drohungen, die aus dem Zerfall des Kommunismus, besonders des jugoslawischen, resultieren, lange nicht durchschaut. Erst als die jugoslawische Krise in den Krieg und in die Gefahr überging, den Balkan zu überfluten und die Nato zu spalten, kamen die Vereinten Nationen in Bewegung, und es wurde mit militärischer Intervention gedroht.
Manche befürchten bei einer bewaffneten Intervention ein „neues Vietnam“ für die USA. Doch der Krieg in Bosnien-Herzegowina ist mit dem in Vietnam nicht zu vergleichen: Hier geht es um einen inneren, ethnisch-religiösen Konflikt, und damals in Vietnam ging es um die amerikanische Intervention gegen eine national-kommunistische Revolution. Vietnam hatte Unterstützung durch den damals mächtigen kommunistischen Block und die liberale Weltmeinung, aber gegen die Hauptakteure des Krieges in Bosnien-Herzegowina — die Serben und die Kroaten — ist sozusagen die ganze Welt (vorerst aktiv nur gegen die Serben).
Europa ist nicht einig, und so kann es auch mit den USA nicht einig sein. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die USA militärisch eingreifen, es sei denn als „Beistand“ für Europa, natürlich unter dem formalen Patronat der Vereinten Nationen. In absehbarer Zeit wird man weiter Druck, vor allem auf die Serben, ausüben und real mit bewaffneter Intervention drohen, um eine Ausweitung des Krieges auf Kosovo, Albanien und Mazedonien zu verhindern. Das Blutvergießen und das Leid der Unschuldigen werden weitergehen.
Der Fortgang des Krieges — zu schweigen von seiner Ausweitung — zieht unüberschaubare Räume und Interessen in seinen Strudel. Die mächtigsten islamischen Länder sind alarmiert — aus Solidarität mit den bosnisch-herzegowinischen Moslems und weil sie der instinktive Wunsch nach Erneuerung eines islamischen Staates in Europa treibt, wie es Bosnien-Herzegowina bis zum Berliner Kongreß von 1878 war, als es an Österreich fiel.
Aber es gibt in diesem Krieg und um ihn herum auch Interessen, die realer sind als Religion und Ideologie. Zunächst haben die Staaten Europas schon beim Zerfall Jugoslawiens und zumal beim Abfall Kroatiens und Sloweniens unterschiedliche Interessen erkennen lassen. Die USA haben durch ihr späteres Engagement diese Unterschiede etwas verwischt, aber je länger die Krise andauert und vor allem, wenn sie sich ausweitet, desto mehr werden sich die Unterschiede zuspitzen, wird eine stärkere Umgruppierung einsetzen.
Denn durch den Zerfall des Kommunismus in Osteuropa, vornehmlich in der Sowjetunion und in Jugoslawien, ist der Feind des Westens und der Nato verschwunden, und für die europäischen Staaten und die USA zeigen sich neue Möglichkeiten.
Wohin das führen wird, darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Aber daß der Krieg im ehemaligen Jugoslawien Widersprüche und Expansionsgelüste — vorerst ökonomischer und politischer Natur — offenlegt und schürt, steht außer jedem Zweifel.
Es drängt sich die fatale Frage auf: Würde die Europäische Gemeinschaft und die Übereinstimmung zwischen Europa und den USA eine größere Krise in Osteuropa überleben, zum Beispiel einen Krieg zwischen Rußland und der Ukraine?
Was wären die Aufgaben und Pflichten der Intellektuellen vor diesen nicht gerade lichten Horizonten? Die Intellektuellen sind keine homogene Schicht — es gibt auf allen Seiten solche und solche, wie eh und je. Aufgaben und Pflichten drängen sich nur jenen wenigen auf, deren Bewußtsein und Gewissen von unterschiedsloser Liebe für die Menschen, für ihr Volk geprägt sind, das heißt den Intellektuellen, die unerschütterlich sind im Widerstand gegen Gewalt, ungerechte Kriege, geistige Versklavung, mit einem Wort: das Böse nicht hinzunehmen — auf diesem Weg ist noch niemand fehlgegangen.
Ich kann nicht umhin, am Ende an Thomas Mann zu erinnern. Obwohl in der Politik nicht engagiert, setzte er seinen großen Namen gegen den „deutschen Wahn“ ein und war in jener Zeit ein Einsamer, das unzerstörbare, unauslöschliche Deutschland des freien Denkens und der schöpferischen Kräfte.
Aus dem Serbokroatischen
von Barbara Antkowiak
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