: Das Leben und nichts anderes
Ein Piepsen, Brummen, Klackern und Hallohallo ohne Antwort: Die ganze heutige Ausgabe der taz würde nicht ausreichen, um „La chasse aux papillons“, Otar Iosselianis neuen Film, nachzuerzählen ■ Aus Venedig Christiane Peitz
Die Gräfin ist tot. Vom alten Schloß in Frankreich übermittelt die Kusine der Gräfin die Nachricht zur Schwester in Moskau. Der Beamte in der Dorfpost zählt die Worte und tickert die Nachricht durch, ein Piepsen, Brummen und Klackern, Telegrafendrähte ziehen vorbei, dann andere Telegraphendrähte und Schnittstellen bis zum hölzernen Telexkasten in Moskau, wo der Beamte den Streifen entgegennimmt und die Worte in die Schreibmaschine tippt, den Zettel weitergibt, von Büro zu Büro bis zum Postboten, der an der Gemeinschaftswohnung der Schwester klingelt und ihr das Telegramm gegen Unterschrift aushändigt. Die Schwester ruft in Frankreich an, aber die Verbindung bricht ab und die Tonbänder im Abhörraum des KGB verzeichnen nur ein weltweites Hallohallo, ohne Antwort. Bei der Totenmesse in der Kirche spielt die Kusine den Trauermarsch auf dem Harmonium, die russische Schwester steigt am Dorfbahnhof aus dem Zug und erreicht verspätet die Trauerfeier, die Nachricht wird von Kirchenbank zu Kirchenbank nach vorne geflüstert, bis zur Kusine: „Sie sind angekommen.“
Frankreich, Moskau und zurück. Andere Filmemacher brauchen dafür zwei Schnitte. Otar Iosseliani macht daraus ein Fest für die Sinne. „La chasse aux papillons“: Zwei alte Kusinen führen ein ruhiges, erfülltes Leben in einem Schloß in der französischen Provinz. Sie fahren Fahrrad, spielen Boule, hören Walkman, gehen in die Kirche, blasen Posaune und schießen auf Büchsen. Sie bewegen sich mit gemächlicher Anmut, tragen ihre flachen, ausgetretenen Schuhe wie Prinzessinnen im Märchen. Sie trinken einen Schnaps in der Küche und erinnern sich an früher. Und wenn eines der wertvollen alten Möbel verrückt wird, fliegt eine feine Staubwolke auf. Die eine Kusine stirbt und vererbt ihr Vermögen der russischen Schwester, die das Schloß an eine Gruppe von Japanern verkauft. Das ist die ganze Geschichte. Und doch würde die gesamte heutige Ausgabe dieser Zeitung nicht ausreichen, um auch nur die Hälfte all dessen zu erzählen, was Iosseliani für knapp zwei Stunden Kino aufgesammelt hat.
Iosseliani konzentriert seinen Blick nicht, er läßt ihn schweifen. „La chasse aux papillons“ ist ein Meisterwerk der Halbtotale. Als die Blaskapelle auf dem Dorfplatz auseinandergeht, schaut die Kamera erst den einen nach und dann den anderen und kann sich am Ende vom Anblick des Platzes nicht trennen, der verlassen daliegt, wenn die Menschen verschwunden sind. So trauert Iosselianis Film einer Zeit hinterher, einer Würde und Menschlichkeit, die es vielleicht nie gegeben hat. Aber er tut es ohne jegliche Sentimentalität: Die Gräfin stirbt, aber die Dinge bleiben — für Iosseliani ist das eine Komödie.
Allein die Geräusche. Schritte auf Kies, eine Grille, die Krishna-Gesänge, das Velo des Pfarrers, die alten Lieder auf dem Grammophon, der Staubsauger auf dem Parkett, raschelndes Zellophan, Kirchenglocken, Türenschlagen, Tanzmusik, Hundegebell, Radionachrichten. Wenn zwei reden, ist es wie ein Duett. Meist sind drei Geräusche zugleich zu hören, eines verebbt, ein nächstes kommt hinzu und immer so weiter: eine schlichte, unendliche Melodie, Kammermusik für die Tonspur. John Cage hätte seine Freude.
Iosseliani sagt: „Wenn ein Film nicht übersetzt wird und man versteht nichts, dann ist es nicht Kino.“ Die Szenen in Moskau hat er nicht synchronisiert. Und doch versteht man jeden russischen Satz, den die alte Schwester spricht. Luis Puenzo hatte am Tag zuvor seine in Argentinien gedrehte Verfilmung von Camus' „Die Pest“ präsentiert, eine internationale Koproduktion mit amerikanischen Stars und auf englisch, ein verlogenes Machwerk mit universellem Anspruch. Und am Sonntag tagte am Lido ein Symposion der Regisseure zur Rettung des europäischen Kinos: Gesetze werden gefordert, Quotierung, Schutzmaßnahmen. Maastricht am Lido, ein babylonisches Sprachengewirr. Iosselianis Konzert straft sie alle Lügen. Christiane Peitz
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