: DIE HEILIGE JUNGFRAU IN MARLBORO-COUNTRY Von Andrea Böhm
Wer in den USA wohnt und in den letzten Monaten die heilige Maria nicht gesehen hat, darf demnächst Minderheitenschutz beantragen — oder sich bei Joseph Januszkiewicz beschweren. Dem ist sie schon dreimal erschienen. Letztens, als er, nichts Göttliches ahnend, auf einem Plastikeimer in seinem Garten in Marlboro, New Jersey, saß. Aus irgendeinem Grund hat Maria entweder an Joseph oder seinem Dorf Marlboro einen Narren gefressen. Jedenfalls hat sie jetzt ihr Erscheinen zum vierten Mal in vier Jahren angekündigt. Das letzte Mal, am 2. August, hatten sich 8.000 Gläubige, Neugierige, Heilsuchende, T-Shirt- Händler, Rosenkranzverkäufer und Imbißbudenbesitzer um Januskiewiczs Haus gedrängt und dabei auch Nachbars Rasen zertrampelt. Deswegen sind viele Bewohner von Marlboro etwas ungehalten. Denn in Amerikas Vor- und Kleinstädten ist vor allem der Rasen vor dem Eigenheim geheiligt.
Außerdem belasten göttliche Erscheinungen die Gemeindekasse. Die Stadt Marlboro, die nicht mit der gleichnamigen Zigarette verwandt ist, mußte 21.000 Dollar für die Marienerscheinung bezahlen. Erstens pilgert in Amerika keiner zu Fuß, sondern mit dem Auto. Also schob der Sheriff Überstunden, um inmitten der Abgaswolken den irdischen Verkehrsstau zu regeln. Zweitens konnten selbst die entrücktesten Gläubigen sich nicht von solch physischen Banalitäten wie der Verdauungstätigkeit befreien. Also mußte die Gemeinde Toilettencontainer bereitstellen. Mülltonnen für die Styroporbecher, Pappteller und Cola-Dosen. Ambulanzwagen für schwache Herzen und Nerven.
Die Experten rätseln nun, warum die Erde — und vor allem der nordamerikanische Kontinent — neuerdings eine solche Anziehungskraft auf die Heilige Jungfrau ausübt. Wegen der Wirtschaftskrise, sagen die einen, sehnen sich die Menschen nach göttlicher Präsenz. Wegen der herannahenden Jahrtausendwende, sagen die anderen. Die klügste Erklärung findet man wieder einmal in der Fachzeitschrift. In den USA gibt es Fachzeitschriften für Sojafarmer, UFO-Anhänger, Dan Quayle — und eine für die heilige Maria mit dem Titel Mary's People. Herausgeber Gabriel Meyer findet die jüngste Entwicklung bemerkenswert und führt sie auf einen kleinen Ort im ehemaligen Jugoslawien zurück. In Medjugorje im heute umkämpften Bosnien erschien Maria erstmals 1981, was dem Örtchen in Friedenszeiten immerhin 17 Millionen Besucher eintrug — darunter viele Amerikaner. Heute käme keiner mehr auf die Idee, in Medjugorje nach Maria zu suchen. Am meisten müßte sich die katholische Kirche in den USA freuen — möchte man meinen. Weit gefehlt. Bischöfen ist nichts lästiger als irgendein Visionär unter ihren Schäfchen, der Marias Kommen ankündigt. Erstens wird die Frau zu populär, und Gott soll keine Maria neben sich haben (ungeschriebenes Gebot). Zweitens kann der Bischof nie so schnell herausbekommen, ob er es mit einem Verrückten zu tun hat oder nicht. Erklärt der Bischof den Visionär zum Spinner, dann riskiert er, daß man ihn für „marienfeindlich“ hält. Erklärt er den Visionär zum Visionär, und am Ende passiert nichts, lacht ihn die ganze Diözese aus. John C. Reiss, der zuständige Bischof in New Jersey, hat sich da taktisch genial verhalten. Er riet vom Besuch in Januszkiewiczs Garten ab, richtete aber gleichzeitig eine Marienprüfungskommission ein.
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